Das österreichische Militärstraf- und Heeresdisziplinarrecht
im Lichte von Art. 5 und 6 EMRK

H Bewertung des österreichischen Militärstraf– und Heeresdisziplinarrechts im Lichte von Artikel 6 EMRK

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Literaturverzeichnis   Teil F   Zur Übersicht


”... 2. die Bestimmungen des Artikels 6 der Konvention werden mit der Maßgabe angewendet,
daß die in Artikel 90 des Bundes–Verfassungsgesetzes
in der Fassung von 1929 festgelegten Grundsätze über die
Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden, ...”
[467]


1 Allgemeines


Sowohl EKMR und EGMR[468] als auch die österreichische Lehre und Rechtsprechung[469] gehen davon aus, daß Art. 6 EMRK auf militärisches Disziplinarrecht,[470] das ein Normenbereich sui generis ist, weil im Disziplinarverfahren weder über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen noch über die Stichhaltigkeit erhobener strafrechtlicher Anklagen entschieden wird,[471] nicht anzuwenden ist.[472]

Diese Haltung ist jedoch wiederholt auf Kritik gestoßen.[473] Insbesondere ist gefordert worden, zumindest für jene disziplinarrechtlichen Strafen, die für den Betroffenen schwerwiegende Folgen — etwa Freiheitsentzug und/oder Entlassung — nach sich ziehen können, das nationale Recht den Erfordernissen des Art. 6 EMRK anzupassen.[474] Die nachfolgende Untersuchung beschäftigt sich daher mit jenem Verfahren, das gemäß § 81 HDG zum Freiheitsentzug für pflichtverletzende Soldaten führen kann.[475]


2 Das Recht auf den gesetzlichen Richter


Die Verfassungsbestimmung des § 82 Abs. 1 HDG legt einerseits das Kommandantenverfahren als anzuwendenden Verfahrensart, andererseits auch die zur Disziplinarentscheidung berufenen Personen (Einheitskommandant beziehungsweise Disziplinarvorgesetzter) fest. Dem entsprechenden Erfordernis[476] des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist somit entsprochen.[477]


3 Die Verpflichtung zur Wahrung einer angemessenen Frist


Der Aufbau jedes Verfahrens nach dem HDG ist darauf ausgerichtet, zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung einer Pflichtverletzung möglichst umgehend eine adäquate disziplinäre Sanktion folgen zu lassen.[478] Konventionsverletzungen wegen einer unangemessen langen Verfahrensdauer können daher — insbesondere während eines Einsatzes[479] — nur in sehr seltenen Einzelfällen vorkommen.[480]


4 Das Recht auf Öffentlichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK[481]


4.1 Die Öffentlichkeit des Verfahrens


Das Disziplinarverfahrens nach dem HDG ist nicht öffentlich.[482] Dies ergibt sich aus der Verschwiegenheitspflicht aller Soldaten über dienstliche Angelegenheiten,[483] die auch im internen militärischen Bereich besteht. Mitteilungen an die Öffentlichkeit über den Inhalt eines Disziplinarverfahrens sind daher gemäß § 34 Abs. 1 HDG generell für jedermann[484] verboten. Ausnahmen bestehen lediglich in bestimmten Fällen für den Bundespräsidenten.[485]


4.2 Die Veröffentlichung der Entscheidung


Demgegenüber ist der Personenkreis, der zu Mitteilungen an die Öffentlichkeit über den Ausgang eines Disziplinarverfahrens berechtigt ist, größer: Neben dem Bundespräsidenten[486] sind dies auch der von einem Disziplinarverfahren Betroffene beziehungsweise seine Hinterbliebenen in den taxativ aufgezählten Fällen des § 34 Abs. 3 Z. 1–3 HDG, sofern die Veröffentlichung im Spruch nicht ausgeschlossen worden ist.[487]

Eine Verlautbarungspflicht für Entscheidungen über Pflichtverletzungen[488] besteht innerhalb des militärischen Dienstbereiches gemäß § 7 Abs. 1 HDG, wenn die Verlautbarung aus präventiven Gründen notwendig erscheint. Zum Schutze des Betroffenen ist diese Verlautbarungspflicht in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt.[489] Die Möglichkeit der Beschränkung der genannten Rechte und Pflichten gemäß § 82 Abs. 2 HDG besteht nicht.[490]


4.3 Der österreichische Vorbehalt zu Art. 6 EMRK


Das Disziplinarrecht — insbesondere das militärische — ist nach allgemeiner Auffassung ein Normenbereich sui generis.[491] Aus diesem Grunde sind weder der österreichische Vorbehalt zu Art. 6 EMRK noch der darin zitierte Art. 90 B–VG, der sich auf die Mündlichkeit und Öffentlichkeit von Verhandlungen in Zivil– und Strafrechtssachen bezieht, anwendbar. Die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK sind somit auch im Disziplinarverfahren zu berücksichtigen.[492]


4.4 Die Öffentlichkeit im österreichischen Heeresdisziplinarrecht


Der einzige konventionsgemäße Rechtfertigungsgrund für den Ausschluß o˙˙r die Beschränkung der Öffentlichkeit im militärischen Disziplinarverfahren während eines Einsatzes ist das Interesse der nationalen Sicherheit. Dieser Sachverhalt kann jedoch erst dann als gegeben angesehen werden, wenn die Einsatzfähigkeit einer Einheit spürbar beeinträchtigt wird; es ist aber nicht anzunehmen, daß dies durch die Veröffentlichung einer fundierten Disziplinarentscheidung geschieht.[493]

Im Fall Sutter gegen die Schweiz hat der EGMR festgestellt, daß bereits die Möglichkeit für jedermann, der ein berechtigtes Interesse nachweist, Einsicht in ein Urteil zu nehmen und/oder sich eine Kopie davon anfertigen zu lassen, den Erfordernissen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht wird.[494]

Unterbleiben jedoch Verlautbarungen und Mitteilungen an die Öffentlichkeit gemäß §§ 7 und 34 HDG, so kann in Österreich eine militärische Disziplinarentscheidung nur auf zwei Wegen an die Öffentlichkeit gelangen: Einerseits durch das parlamentarische Interpellationsrecht gemäß Art. 52 B–VG, andererseits — so mit ihr ein Freiheitsentzug verbunden gewesen ist — nach Erschöpfung des Instanzenzuges durch eine Grundrechtsbeschwerde nach § 1 Abs. 1 GRBG an den OGH. Im Hinblick auf die allgemeine Verschwiegenheitspflicht, die auch den vom Disziplinarverfahren Betroffenen einschließt, kann daher durch diese Beschränkung des Berechtigtenkreises von einem zweckentsprechenden, die Kontrolle von hoheitlichen Entscheidungen durch die Öffentlichkeit gewährleistenden Erfüllung des Öffentlichkeitsgebotes im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK keine Rede sein.[495]

Die Einbeziehung einer zumindest beschränkten soldatischen Öffentlichkeit in das Disziplinarverfahren ist jedoch nicht nur im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK geboten; das Bewußtsein, einer fairen und gerechten Disziplinargewalt unterstellt zu sein, ist sicher geeignet, motivierend auf die Soldaten zu wirken und ihre Disziplin und Leistungsbereitschaft zu fördern.[496]


5 Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK


Während die Forderung des Art. 6 Abs. 2 nach dem gesetzlichen Nachweis der Schuld[497] durch die Regel des § 2 Abs. 4 S. 1 HDG erfüllt wird, ist eine allgemeine Bestimmung über die Unschuldsvermutung im HDG ebensowenig enthalten wie in jenen des AVG, die in § 23 HDG genannt sind. Der Grundsatz in dubio pro reo läßt sich weder als Beweiswürdigungs– noch als Beweislastregel[498] aus den allgemeinen Verfahrensbestimmungen des § 32 HDG ableiten.[499]

Zwar ergibt sich die Verpflichtung zu gerechtem Handeln für jeden Vorgesetzten generell aus § 4 Abs. 1 ADV;[500] als Ersatz für eine Normierung der Unschuldsvermutung im HDG kann diese Bestimmung jedoch nicht angesehen werden. Durch das Fehlen einer speziellen Norm im HDG wird Art. 6 Abs. 2 EMRK direkt auf das HDG anwendbar, das Gesetz ist adher in dieser Hinsicht nicht konventionswidrig; einer Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in § 32 HDG steht jedoch meines Erachtens auch aus militärischer Sicht nichts im Wege.[501]


6 Zum Mindeststandard der garantierten Rechte nach Art. 6 Abs. 3 lit. a–d EMRK[502]


6.1 Das Informationsrecht


Das Recht des Beschuldigten gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK auf möglichst rasche und umfassende Information über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe wird durch § 43 Abs. 7 HDG gewährleistet,[503] der über die Konventionsbestimmung hinausgeht, indem er dem Beschuldigten auch das Recht einräumt, unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände bereits bei seiner Festnahme umgehend eine Vertrauensperson und einen Rechtsbeistand zu verständigen.[504]


6.2 Das Vorbereitungsrecht


Ob einem Beschuldigten (beziehungsweise seinem Rechtsbeistand) ausreichend Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung gegeben wird, ist jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände zu beurteilen; gerade im Hinblick auf die gebotene Raschheit des Disziplinarverfahrens — insbesondere in jenem während eines Einsatzes — ist auf die Gewährung eines entsprechenden Zeitraumes zwischen der Unterrichtung des Beschuldigten und dem Verfahren selbst großer Wert zu legen, um den Grundsätzen des fair trial gerecht zu werden.[505]

Unter dem Begriff der ausreichenden Gelegenheit ist neben der adäquaten Information und Vorbereitungszeit auch die Möglichkeit des Verkehrs mit dem Rechtsbeistand und der Akteneinsicht[506] zu verstehen.[507]


6.3 Das Verteidigungsrecht


§ 28 HDG gibt — über die geforderten Garantien des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hinausgehend — dem Beschuldigten das Recht, sich entweder einen Verteidiger bestellen zu lassen (Abs. 2) oder sich einen solchen aus dem in Abs. 1 Z. 1–4 genannten Personenkreis selbst zu wählen.[508] Während eines Einsatzes können jedoch nur Soldaten die Verteidigung eines Beschuldigten übernehmen.[509] Aus militärischer Sicht erscheint diese Regelung — zumindest für den Kampfeinsatz — unbedingt erforderlich und einleuchtend; ein Rechtsanwalt oder Verteidiger in Strafsachen wird in der Regel nicht oder nur nach erheblichen Verzögerungen und erheblichem Mehraufwand, der durchaus zur Einsatzzweckgefährdung führen kann, zur Verfügung stehen.[510] Diese Beschränkung kann aber nur dann gerechtfertigt sein, wenn der dem Beschuldigten zur Seite stehende Soldat auch zur Verteidigung qualifiziert, das heißt entsprechend geschult ist, insbesondere wenn dieser auf Ersuchen des Beschuldigten zu bestellen ist.[511] Hinsichtlich des Gebotes der Waffengleichheit[512] ist vor allem die Bestimmung des § 82 Abs. 4 als sehr bedenklich anzusehen.[513]

Auch das Recht auf Selbstverteidigung ist im Einsatzverfahren erheblich eingeschränkt. Die Bestimmung, daß dem Beschuldigten zumindest einmal während des Verfahrens Gelegenheit zu geben ist, sich zu den erhobenen Beschuldigungen zu äußern,[514] bedeutet keinesfalls, daß ihm damit die Möglichkeit der Verteidigung gegeben wird.[515] Entsprechende Bestimmungen, die den Beschuldigten vor Willkür schützen, fehlen im HDG. Es ist daher festzustellen, daß § 82 Abs. 2 S. 2 sowie § 82 Abs. 4 HDG die von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantierten Rechte verstoßen und somit konventionswidrig sind.[516]


6.4 Das Befragungs– und Ladungsrecht


Der Beschuldigte und/oder sein Verteidiger[517] haben das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Dem wird insbesondere die Regelung des § 28 Abs. 5 HDG gerecht, der die Rechte des Verteidigers normiert und dabei auch auf die gesetzlichen Verteidigungsmittel abstellt.[518]

Der Anspruch des Beschuldigten, Entlastungszeugen laden zu lassen, ist auch dann gegeben, wenn diese Ladung aufgrund der Umstände auf Schwierigkeiten stößt,[519] sofern diese nicht unüberwindlich sind. § 30 HDG ermächtigt die Disziplinarbehörden, auch Personen vorzuladen, deren Aufenthalt außerhalb ihres Amtsbereiches liegt.

Mag es auch berechtigt sein, für den normalen Dienstbetrieb davon auszugehen, daß das HDG den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gerecht wird, so sind doch ernste Zweifel angebracht, inwieweit von der Gewährleistung des Befragungs– und Ladungsrechtes der Verteidigung im Einsatzfall gesprochen werden kann. Gerade die Ausübung dieser Rechte erfordert oft einen erheblichen zeitlichen Mehraufwand der Disziplinarbehörde, dem sie jedoch aufgrund der Regelung des § 81 Abs. 2 HDG wirksam, wenn auch nicht konventionskonform entgegenwirken kann.



[467] Österreichischer Vorbehalt zu Art 6 EMRK, BGBl Nr. 210/1958.

[468] Vgl Publications Série A vol 22 45 (EuGRZ 1976 231–234): „Par ces motifs, la Cour ... 8. Dit, par onze voix contre deux, que l'article 6 ne s'appliquait pas à M. Engel au titre des mots «accusation en matière pénale»; 9. Dit, à l'unanimité, qu'il ne s'appliquait pas davantage à ce requérant au titre des mots «droits et obligations de caractère civil»; ...”; Herzog in EuGRZ 1978 541 lSp; Triffterer/Binner in EuGRZ 1977 142 lSp; Ermacora Grundriß 138 RZ 503 Pkt 1, 4 und 16. Zur differenzierteren Auffassung des EGMR gegenüber der EKMR vgl Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) RZ 230–232.

[469] Vgl Weissel Dissertation 120–141 mwN. Vgl Partsch Rechte und Freiheiten 146; Walter/Mayer Grundriß7 523 RZ 1476; Kopetzki in EuGRZ 1983 179 lSp; Ermacora Grundriß 137 RZ 502 Pkt 5; Miehsler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 36 RZ 155.

[470] Vgl Publications Série A vol 22 34 (EuGRZ 1976 232) Pkt 82 Abs 1: „Dès lors, la Cour doit préciser, en se limitant au domaine du service militaire, ...”. Hervorhebung nicht im Original.

[471] Zur Auslegung der Begriffe civil rights and obligations / droits et obligations de caractère civil und criminal charge / droits et obligations en matière pénale vgl etwa Miehsler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 12 RZ 22–32. EKMR und EGMR haben sich die Interpretation dieser Begriffe vorbehalten; sie beziehen sich daher nicht auf nationales Recht, sondern sind notions autonomes; vgl Partsch Rechte und Freiheiten 144 mwN.

[472] Voraussetzung der Nichtanwendung von Art 6 EMRK auf das militärische Disziplinarrecht ist allerdings, daß die disziplinäre Sanktion durch ihre Schwere nicht überwiegend strafrechtlichen Charakter erhält; der EGMR behält sich jedenfalls vor, sich entsprechend zu vergewissern: vgl Publications Série A vol 22 34 f (EuGRZ 1976 232) Pkt 81 Abs 4 und Pkt 82 Abs 1 sowie Herzog in EuGRZ 1978 541 lSp. Vgl zur Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht Miehsler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 21 RZ 74–85.
Zur Anwendbarkeit von Art 6 EMRK auf Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung der zu entscheidenden Materie etwa Peukert in EuGRZ 1980 248; zur Abgrenzung von gerichtlichem Strafrecht vom Verwaltungsrecht vgl Berchtold in Machacek/Pahr/Stadler 2 716 sowie ders in EuGRZ 1982 250–254. Zur Anwendbarkeit des Art 6 EMRK auf das militärische Strafverfahren vgl (bejahend) Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 63 RZ 229 mwN.

[473] Vgl Weissel Dissertation 120–122 mwN sowie 129. Vgl Kopetzki in EuGRZ 1983 178 f.

[474] Vgl Triffterer/Binner in EuGRZ 1977 142 lSp mit Hinweis auf die abweichende Meinung des Richters Cremona (vgl Publications Série A vol 22 52–54) im Fall Engel ua in FN 11; Weissel Dissertation 122 mwN; zu den Bemühungen des österreichischen Gesetzgebers, dieser Forderung nachzukommen, vgl Weissel Dissertation 141 FN 129 (Anpassung an die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK) sowie Töglhofer Diplomarbeit 21 f (Abbau von freiheitsentziehenden Disziplinarmaßnahmen im HDG). Derartige Bemühungen haben bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt; vgl Miehsler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 14 RZ 39–41.

[475] Vgl auch Weissel Dissertation 135 f. Die Entlassung gehört wohl zu den schwerwiegendsten Sanktionen, die aufgrund des HDG verhängt werden können (vgl dazu auch Weissel Dissertation 139–141). Sie ist jedoch mE keine speziell disziplinäre Maßnahme, sondern im Zusammenhang mit dem allgemeinen Arbeitsrecht zu sehen: Jeder Arbeitnehmer, der seine Weiterbeschäftigung für den Dienstgeber unzumutbar gemacht hat, indem er sich grob fehlverhalten hat, muß — im Interesse sowohl des Dienstgebers als auch aller anderen Arbeitnehmer eines Betriebes — mit seiner Entlassung rechnen; vgl etwa § 1162 ABGB, § 82 GewO, § 20 HausbG, § 27 AngG sowie Mayerhofer Arbeitsrecht 184 f und Floretta/Spielbüchler/Strasser Arbeitsrecht3 I 301–308 mwN; beachte zur Haltung der EKMR auch Miehsler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 65 RZ 232. Aus diesem Grunde wird von einer Behandlung der Entlassung als disziplinäre Maßnahme im Lichte von Art 6 EMRK in dieser Arbeit unter dem Hinweis abgesehen, daß das HDG in diesem Bereich (vgl §§ 15–18 und 67–76 HDG) auch über die Anforderungen der EMRK hinausgehende Rechte gewährleistet (vgl zB das Recht auf das letzte Wort des Beschuldigten gem § 73 Abs 5 HDG sowie das Recht des Beschuldigten auf Überprüfung einer während eines Einsatzes verhängten Entlassung gem § 83 Abs 5–8 HDG).
Vgl zur weiteren Begründung auch Weissel Dissertation 141: Die Entlassung stellt keine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche dar, wenn in einem Verfahren über Ansprüche entschieden wird, „die dem Einzelnen nicht in seiner Eigenschaft als Privatperson in Ausübung seiner individuellen Freiheitsrechte, sondern aufgrund einer besonderen Rechtsbeziehung zu Institutionen des Staates zustehen.” Dieser Meinung ist mE nur bedingt zuzustimmen: Das Vorliegen eines besonderen Gewaltverhältnisses schließt die Ausübung von Freiheitsrechten durch den Gewaltunterworfenen gegenüber dem Staat keinesfalls automatisch aus! Vgl dazu oben B.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, daß den Disziplinarkommissionen in beiden Instanzen gem § 15 Abs 5 HDG jene von Art 6 EMRK geforderte Selbständigkeit und Unabhängigkeit garantiert worden ist, wie sie etwa auch einem UVS zukommt; vgl dazu auch HDG–Erl zum Allgemeinen Teil 13.

[476] „... auf Gesetz beruhend ...”

[477] Zum Tribunalbegriff sowie zur Unabhängigkeit und Selbständigkeit von Disziplinarbehörden vgl oben G.6.

[478] Vgl § 32 Abs 2 HDG: „Die Disziplinarbehörden sind verpflichtet, Verfahren nach diesem Bundesgesetz ohne unnötigen Aufschub durchzuführen und abzuschließen.” Hervorhebungen nicht im Original.

[479] Vgl § 82 Abs 2 Z 2 HDG.

[480] Diese Fälle sind jedoch nicht nur konventionswidrig, sondern entsprechen auch nicht den Erfordernissen des HDG. Sie sollen daher in dieser Arbeit nicht näher behandelt werden.

[481] Gemeint ist damit nicht die Parteien–, sondern die Volksöffentlichkeit; vgl Miehsler in Golsong ua Kommentar2 277 RZ 714.

[482] § 32 Abs 3 HDG.

[483] Zur allgemeinen Verschwiegenheitspflicht vgl auch § 17 Abs 2 WG sowie § 3 Abs 2 ADV; zur besonderen Verschwiegenheitspflicht der am Verfahren beteiligten Personen vgl § 26 Abs 2 HDG. Zur Auslegung von Art 20 Abs 4 B–VG sowie § 1 AuskpflG im militärischen Bereich vgl Erlässe vom 16.06.1988 Nr. 104 (12 020/204–1.4/87) bzw Nr. 105 (12 020/205–1.4/87) in VBl I 1988/104–105 vom 11.07.1988 219–228.

[484] Vgl HDG–Erl zum 3. Hauptstück (Allgemeine Verfahrensbestimmungen) 15. Diese Bestimmung gilt auch für den Bundesminister für Landesverteidigung, wodurch jedoch das verfassungsmäßig verankerte parlamentarische Interpellationsrecht (Art 52 B–VG) nicht berührt wird.

[485] Vgl § 34 Abs 2 Z 2 HDG; derartige Veröffentlichungen werden nur bei schweren Pflichtverletzungen führender Offiziere stattfinden, um einem berechtigten Interesse der Öffentlichkeit auf Information Genüge zu tun.

[486] § 34 Abs 2 HDG. Der Bundespräsident darf auch die Tatsache der Erstattung einer Disziplinar– oder Strafanzeige veröffentlichen; vgl § 34 Abs 2 Z 1 lit a HDG.

[487] Dies ist dann zulässig, wenn entweder öffentliche Interessen bzw der gute Ruf oder Rechte Dritter durch die Veröffentlichung beeinträchtigt würden; vgl § 34 Abs 4 S 2 HDG. Die Regelung dient der Unterstützung der von Art 6 Abs 2 EMRK geforderten Unschuldsvermutung.

[488] Vgl dazu die taxative Aufzählung in § 7 Abs 1 Z 1–3 HDG.

[489] Vgl § 7 Abs 1 S 2, Abs 3 sowie Abs 5 HS 1 HDG.

[490] Die Zulässigkeit der Abweichung von Verfahrensvorschriften hängt von der Erfüllung von Z 1 und 2 der genannten Bestimmung ab, die allein den Zweck der Verfahrensbeschleunigung hat; die Möglichkeit, daß Soldaten — etwa in ihrer dienstfreien Zeit — einem Disziplinarverfahren beiwohnen, bewirkt nicht automatisch eine Verfahrensverzögerung.

[491] Vgl dazu oben G.2 und H.1 mwN.

[492] AA etwa Ermacora Grundriß RZ 519. Es ist jedoch nicht einleuchtend, warum gerade durch den Vorbehalt zu einer Bestimmung, die das Disziplinarrecht gar nicht berührt, die Anwendbarkeit des Art 6 Abs 1 EMRK inbezug auf das Erfordernis der Öffentlichkeit im Hinblick auf Disziplinarverfahren ausgeschlossen sein soll, die weder im Vorbehalt noch in Art 90 B–VG erwähnt sind (vgl Miehsler in Golsong ua Kommentar2 279 RZ 717: „Durch den Vorbehalt sollte offensichtlich erreicht werden, daß alle Vorschriften von öZPO und öStPO, die sich auf den Grundsatz der Öffentlichkeit beziehen ..., unberührt bleiben”; Hervorhebungen nicht im Original). Eine derartig extensive Interpretation erscheint unzulässig; selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dem Vorbehalt zur Zeit seiner Erklärung ein anderes Öffentlichkeitsverständnis als das moderne zugrundegelegen hat (vgl Miehsler in Golsong ua Kommentar2 278 RZ 715), so ist er nach heutigen Kriterien, die durch die weite Auslegung des Öffentlichkeitsbegriffes iSd Volksöffentlichkeit durch EKMR und EGMR bestimmt sind, in dieser Hinsicht zu einer unklaren Bestimmung geworden, die restriktiv auszulegen ist (vgl Miehsler in Golsong ua Kommentar2 RZ 705 und 708 mwN).

[493] Dem Verlangen nach Öffentlichkeit eines Verfahrens kann — unter Berücksichtigung militärischer Erfordernisse während eines Einsatzes — bereits entsprochen werden, wenn zumindest für eine beschränkte Anzahl von dienstfreien Soldaten die Möglichkeit der Anwesenheit besteht.

[494] Vgl EuGRZ 1985 229 rSp, 231 Pkt 20 sowie 232 Pkt 34. Die abweichende Meinung einiger Richter bezog sich hauptsächlich auf die Verzögerungen und die mangelnde Verpflichtung des Gerichts zur Urteilsveröffentlichung im konkreten Fall; Originaltext in Publications Série A vol 74.

[495] Vgl dazu die abweichende Meinung der Richter Cremona, Ganshof van der Meersch, Walsh und Macdonald im Fall Sutter gegen die Schweiz in EuGRZ 1985 233 lSp.
Trotzdem scheint der Ausschluß der allgemeinen Öffentlichkeit vom militärischen Disziplinarverfahren insofern gerechtfertigt zu sein, als eine Pflichtverletzung keine negativen Auswirkungen für den Betroffenen außerhalb des militiärischen Bereichs haben soll (dies ergibt sich bereits aus den Schutzbestimmungen des § 79 Abs 1 iVm § 7 Abs 3 und Abs 5 HS 1 HDG für den wehr– und dienstrechtlichen Bereich). Weissel, der öffentlich zugängliche Disziplinarverfahren als einzige EMRK–konforme Möglichkeit vorschlägt, ist daher nicht zu folgen; vgl Weissel Dissertation 190 f. Dadurch würde das Öffentlichkeitsgebot zum Selbstzweck degradiert.

[496] Vgl § 5 ADV. Der Nachteil jener geringfügigen Verzögerungen, die sich durch die Zulassung der soldatischen Öffentlichkeit für das Verfahren ergeben können, wird mE — auch aus militärischer Sicht — bei weitem dadurch aufgehoben, daß der demoralisierende Eindruck einer mit Willkür behafteten disziplinären Geheimjustiz bei den Soldaten wegen der Transparenz des Verfahrens erst gar nicht entsteht. Vgl dazu unten Schlußbemerkungen sowie Weissel Dissertation 173.

[497] Vgl dazu Berdnik Diplomarbeit 16 mwN.

[498] Vgl dazu Berdnik Diplomarbeit 9–12 mwN. § 32 Abs 1 normiert nur, daß be– wie entlastende Umstände im Disziplinarverfahren in gleicher Weise zu berückscihtigen sind.

[499] Das gilt auch für die besonderen Verfahrensbestimmungen, etwas § 61 HDG.

[500] Dies beinhaltet auch die Anwendung der Unschuldsvermutung; sie ist ein allgemein anerkannter, einem demokratischen Gerechtigkeitsempfinden entsprechender Verfahrensgrundsatz.

[501] Die Schuld muß ohnehin nachgewiesen werden; vgl § 2 Abs 4 S 1 HDG.
Das Gebot der Unschuldsvermutung ist gerade im Disziplinarverfahren während eines Einsatzes zur Vermeidung vorschneller Fehlentscheidungen besonders wichtig. Eine Verlängerung der Verfahrensdauer über das notwendige Maß hinaus ist durch ihre Anwendung jedoch nicht zu erwarten. Zu bedenken ist auch, daß das Bekanntwerden — auf welche Weise dies auch immer geschieht — solcher Fehlentscheidungen idR nachteilige Auswirkungen auf die Disziplin und Leistungsbereitschaft der Soldaten hat; vgl dazu Weissel Dissertation 171.
Die Normierung der Unschuldsvermutung im HDG erscheint derzeit va wegen der bereits erwähnten Unkenntis der Disziplinarbehörden vom Inhalt der EMRK geboten; vgl dazu oben F.

[502] Wehrpflichtige, die der deutschen Sprache nicht oder nicht ausreichend mächtig sind, um etwa Befehlen Folge leisten zu können, werden idR solange nicht zum Wehrdienst eingezogen, bis dieser Umstand beseitigt oder die Altersgrenze erreicht ist. Für den Fall, daß sich die mangelnde Sprachkenntnis erst während der Dienstzeit herausstellt, sind keine gesetzlichen Vorkehrungen getroffen worden; damit ist Art 6 Abs 3 lit e EMRK direkt auf das militärische Disziplinarverfahren anzuwenden.

[503] Zu bechten ist aber, daß der Umfang der Information im Verfahren über jenen bei der Festnahme des Beschuldigten idR weit hinausgehen muß; sie hat nicht nur die Beschuldigungspunkte selbst, sondern auch die vermutlich verletzten Gesetzesvorschriften zu enthalten und soll den Beschuldigten in die Lage versetzen, seine Verteidigung vorzubereiten; Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 181 RZ 470–472.
Im disziplinären Bereich kommt jedoch der (umfassenden) Information ereits bei der Festnahme große Bedeutung zu, da das Verfahren selbst möglichst zügig abzuführen ist und daher wenig Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bieten kann. § 43 Abs 7 HDG entspricht dieser Forderung, indem er die Unterrichtung über die Anschuldigungen „ehestens, wenn möglich bereits bei der Festnahme” gebietet. Vgl auch Art 6 Abs 3 lit a EMRK: „promptly / dans le plus court délai”.

[504] Dies bewirkt jedoch nicht, daß damit den Anforderungen des Art 6 Abs 3 lit b automatisch entsprochen wird. Ob dem Beschuldigten wirklich ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist, ist jeweils im Einzelfall zu überprüfen und kann daher nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein.

[505] Dies umso mehr, als gem § 82 Abs 2 Z 1 HDG ein Abweichen von den allgemeinen Verfahrensvorschriften dann zulässig ist, wenn ihre Einhaltung den Einsatzzweck beeinträchtigt (zusätzlich muß allerdings die Bedingung der Z 2 erfüllt sein; gerade während eines Einsatzes ist jedoch zur Aufrechterhaltung der Disziplin nicht nur eine unverzügliche Ahndung, sondern auch das Vertrauen der Soldaten auf die Fairneß der Vorgesetzten unbedingt vonnöten). Eine Norm, die den Beschuldigten vor einer zu großzügigen Auslegung der Einsatzbeeinträchtigung und damit vor Willkür schützt, fehlt dem HDG; hier ist wohl Art 6 Abs 3 lit b EMRK selbst anzuwenden, da sonst das entsprechende Recht nicht gewährleistet ist.

[506] Vgl § 45 und 45 a StPO iVm § 28 Abs 5 HDG, insb aber § 69 HDG iVm § 17 Abs 1, 3 und 4 AVG gem § 23 HDG.

[507] Vgl Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 185 RZ 480, 481–486, 490–492. Entsprechende Normen fehlen im HDG. Zur Vereinbarkeit von Schnellverfahren mit Art 6 Abs 3 lit b EMRK vgl Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 192 RZ 495.

[508] § 28 Abs 1 HDG. Durch VfSlg 11561 ist der Ausschluß von Rechtsanwälten als Verteidiger im Disziplinarverfahren gem § 29 Abs 1 letzter Satz HDG 1985 wegen Gleichheitswidrigkeit aufgehoben worden.
Nur der bestellte Soldat ist zur Übernahme der Verteidigung verpflichtet; vgl § 28 Abs 1 S 5 sowie § 28 Abs 2 S 2 HDG. Zu den Rechten des Verteidigers vgl § 28 Abs 5 HDG.

[509] § 82 Abs 3 HDG.

[510] Vgl Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 204 RZ 525 mwN.

[511] Vgl dazu auch Weissel Dissertation 186.

[512] Einheitskommandanten und Disziplinarvorgesetzte haben immer eine entsprechede Schulung absolviert!

[513] Soldaten–, va aber Personalvertreter haben zumindest Belehrungen erhalten, die sie vor allen anderen (nicht rechtskundigen) Soldaten qualifizieren, die Verteidigung eines Beschuldigten zu übernehmen. Der Entfall der Mitteilungspflicht gem § 22 HDG im Einsatzfall kann — auch aus militärischer Sicht — nur dann als berechtigt angesehen werden, wenn sie ausschließlich den zuständigen Soldaten– bzw Personalvertreter betrifft; die jeweils gegebenen Umstände sind — unter weitestgehender Anwendung des Günstigkeitsprinzips für den Beschuldigten — zu berücksichtigen.
Zur geforderten Qualität der rechtsfreundlichen Vertretung vgl Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 209 RZ 535.

[514] § 82 Abs 2 S 2 HDG.

[515] Dies insb dann nicht, wenn diese Anhörung zu Beginn des Verfahrens stattfindet und der Beschuldigte somit zu jenen Punkten, die sich im Verfahrensverlauf ergeben, möglicherweise nicht mehr Stellung nehmen kann.

[516] Anzumerken ist an dieser Stelle, daß die Vertretung eines Beschuldigten durch einen Soldaten immer unentgeltlich ist; vgl § 28 Abs 3 HDG.

[517] Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 216 RZ 552.

[518] Vgl §§ 150–172 StPO („Von der Vernehmung der Zeugen”) sowie § 30 HDG iVm §§ 19 f AVG gem § 23 HDG.

[519] Vgl dazu etwa Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 215 RZ 551.






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