Das österreichische Militärstraf- und Heeresdisziplinarrecht
im Lichte von Art. 5 und 6 EMRK

E Der Soldat im Strafprozeß[382]

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„Es hindert die gerichtliche Ahndung einer Tat nicht,
daß sie auch als Verstoß gegen eine besondere militärische Dienst– oder
Standespflicht disziplinär geahndet werden kann.”
[383]


1 Materielle strafrechtliche Grundlagen


Neben dem allgemeinen materiellen Strafrecht sind für den Soldaten das MilStG[384] sowie die strafrechtlichen Bestimmungen der §§ 57 und 58 Abs. 1 WG[385] von besonderer Bedeutung.

Die Notwendigkeit militärstrafrechtlicher Sondernormen ergibt sich sowohl aus dem berechtigten öffentlichen Interesse an einer funktionierenden militärischen Landesverteidigung,[386] die durch die Einhaltung besonderer Ordnungsvorschriften[387] und durch abschreckende Ahndung aller Taten, die geeignet oder dazu bestimmt sind, die Landesverteidigung zu behindern oder zu vereiteln, gewährleistet werden soll, sowie aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Soldaten vor Straftaten ihrer Kameraden[388] sowie vor Willkür ihrer Vorgesetzten.[389]


2 Formelle strafrechtliche Bestimmungen


Gemäß Art 84 B–VG ist die Militärgerichtsbarkeit im Frieden aufgehoben.[390] Dem entspricht die Regelung des § 500 StPO, der einerseits alle Soldaten im Frieden der Strafgerichtsbarkeit bürgerlicher Gerichte[391] und — mit Ausnahme der Sonderregelungen der §§ 501 bis 506 StPO[392] — den allgemeinen Vorschriften für das Strafverfahren[393] unterstellt.


2.1 Zusammentreffen gerichtlicher und disziplinärer Sanktionen


Prinzipiell ist die Durchführung eines militärischen Disziplinarverfahrens kein Hindernis für die gerichtliche Ahndung einer Straftat. Diese generelle Aussage des § 501 Abs. 1 StPO wird jedoch durch § 501 Abs 2 StPO sowie durch § 5 HDG[394] mit dem Ziel, eine Doppelbestrafung minder strafwürdiger Taten möglichst zu vermeiden, eingeschränkt.[395]

Die Disziplinarbehörde ist an die in einem rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteil ausgesprochenen positiven wie negativen Tatsachenfeststellungen gebunden.[396]


2.2 Sonderbestimmungen zur vorläufigen Verwahrung


Bei Gefahr in Verzug[397] sind, soweit die Voraussetzungen des § 502 Abs. 1 Z. 1 und 2 erfüllt sind, militärische Kommandanten, Orts– und Unterkunftskommandanten, deren beauftragte Gehilfen sowie militärischen Wachen ermächtigt, eine vorläufige Verwahrung eines einer strafbaren Handlungen Verdächtigen zum Zwecke der Vorführung vor einen Untersuchungsrichter durchzuführen.[398]


2.3 Informationspflichten des Gerichts


Jede Ladung,[399] Ver– oder Enthaftung, Anordnung des Strafvollzuges gegen einen Soldaten ist dessen unmittelbar vorgesetztem Kommando, jede Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Soldaten dessen Disziplinarvorgesetzten bekanntzugeben.[400]



[382] Da die §§ 504–506 StPO in Hinblick auf Art 5 und 6 EMRK nicht relevant sind, wird auf sie in dieser Arbeit nicht näher eingegangen.

[383] § 501 Abs 1 StPO.

[384] Im Gegensatz zu § 259 StGB (Beteiligung an militärischen strafbaren Handlungen), der nur Zivilpersonen betrifft, und § 260 StGB (Wehrmittelsabotage), der auf jedermann angewendet werden kann, gelten die Bestimmungen des MilStG weitgehend nur für Soldaten (§ 1 S 1 MilStG). Es behandelt ausschließlich militärische Straftatbestände. „Die allgemeinen Strafgesetze finden auf Soldaten insoweit Anwendung, als dieses Bundesgesetz keine besonderen Bestimmungen enthält.” (§ 1 S 2 MilStG)
Diese relativ scharfe Trennung zwischen allgemeinen und militärischen Strafrechtsnormen war im österreichischen Strafrecht — wie auch in anderen europäischen Rechtsordnungen (hier auch in Hinblick auf disziplinarrechtliche Regelungen) — nicht immer so weitgehend verwirklicht; vgl etwa § 577 StG sowie für die BRD §§ 5 Z 14, 77a Abs 2, 109g Abs 1, 109h, 113 Abs 1, 164 Abs 1, 194 Abs 3, 232 Abs 2, 333 Abs 1, 334 Abs 1, 343 Abs 1 Z 3, 344 Abs 2, 345 Abs 3 Z 4 dStGB (1987/1990).

[385] Die übrigen Strafbestimmungen des WG behandeln Verwaltungsübertretungen (vgl §§ 59–63 WG); für die Ahndung ist gem § 64 WG jene Bezirksverwaltungsbehörde, „zu deren örtlichen Wirkungsbereich der Aufenthalt des Beschuldigten gehört, wenn aber dieser Ort zum örtlichen Wirkungsbereich einer Bundespolizeibehörde gehört, diese Behörde zuständig.”

[386] Dazu gehört zB die Erfüllung der Wehrpflicht; vgl §§ 7–11 MilStG sowie § 38 Abs 1–4 MilStG.

[387] Vgl dazu auch die Ausführungen zur Disziplin oben A. Zu den Straftaten gegen die militärische Ordnung vgl etwa §§ 12–23 MilStG. Zum berechtigten öffentlichen Interesse vgl auch oben B.10.
Das Recht auf Selbstverteidigung ist ein grundlegendes jeder demokratisch orientierten Rechtsordnung und allgemein anerkannt. Was aber für den privaten Bereich Gültigkeit hat (vgl §§ 3 und 10 StGB oder etwa §§ 32–35 dStGB), muß für den öffentlichen Bereich im Rahmen der ULV, die auch die militärische Verteidigung beinhaltet, umso mehr gewährleistet sein, da nur durch die Gesellschaft und ihre Rechtsordnung als eine ihrer wesentlichen Grundsäulen die Rechte des Bürgers garantiert werden können. Das berechtigte allgemein–öffentliche Interesse an einer funktionierenden ULV ergibt sich somit aus dem Schutzbedürfnis des Einzelnen und seinem Interesse an der Aufrechterhaltung und Sicherheit des Rechtssystems und des gesellschaftlichen Gefüges, dem er angehört.

[388] Vgl dazu §§ 31 Abs 2 u 38 Abs 1 MilStG.

[389] Vgl dazu §§ 33–37 MilStG sowie § 38 MilStG. Beachte auch §§ 24 f MilStG.

[390] Art 84 B–VG ermöglicht die Militärgerichtsbarkeit (Militärstrafprozeßordnung und Militärgerichte) für Kriegszeiten; die Einrichtung einer solchen ist zwar denkbar (vgl Hirschmugl Diplomarbeit 72–75), jedoch zur Zeit weder vorgesehen noch in ihrer Organisation geplant; vgl dazu Roniger Heer und Demokratie 161–163 mwN. Zur Zulässigkeit von Militärgerichten vgl Miehsler/Vogler in Golsong ua Kommentar2 (Art 6 EMRK) 91 RZ 291.
Zutreffend stellt Roniger selbst für den Fall der Einführung einer Sondergerichtsbarkeit fest, daß „zumindest den 'notstandsfesten Grundrechten' im Sinne des Art 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention Rechnung getragen werden müßte” (Roniger Heer und Demokratie 163). Art 15 selbst ist in Österreich nicht anwendbar; vgl Ermacora Grundriß RZ 1092.
Zu beachten sind auch jene Bestimmungen der Zusatzprotokolle zur EMRK, die ebenfalls durch Vorbehalte nicht einschränkbar sind. Vgl dazu insb Art 3 6. ZProtEMRK iVm Art 1 6. ZProtEMRK sowie Art 85 B–VG über die Abschaffung der Todesstrafe. Gem Art 4 6 ZProtEMRK sind Vorbehalte bezüglich dieser Bestimmung nicht zulässig; für Kriegs– und Krisenzeiten ist jedoch gem Art 2 6. ZProtEMRK die Einführung und Verhängung der Todesstrafe in Übereinstimmung mit nationalen Gesetzen möglich.
Zur Einschränkbarkeit zwingender völkerrechtlicher Normen vgl auch Radke Staatsnotstand 65 ff sowie 196 ff.

[391] § 500 Abs 1 StPO.

[392] Beachte aber auch die Bestimmungen der §§ 3 u 5 MilStG sowie § 15 ZustellG.

[393] § 500 Abs 2 StPO.

[394] § 5 HDG bezieht sich nicht nur auf gerichtlich, sondern auch auf verwaltungsbehördlich strafbare Handlungen.

[395] So ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Z 1–3 iVm § 5 Abs 1 S 2 HDG von einer disziplinären Verfolgung ganz abzusehen. Bei einem Vergehen nach dem MilStG, das mit einer maximalen Freiheitsstrafe von 6 Monaten bedroht ist, hat eine unverzügliche Ahndung der Tat stattzufinden (§ 5 Abs 4 S 1 HDG), was zur Folge hat, daß ein gerichtliches Verfahren nicht eingeleitet bzw nicht fortgesetzt werden darf (§ 501 Abs 2 S 1 StPO). Droht dem Beschuldigten nach dem MilStG eine Freiheitsstrafe zwisschen 6 Monaten und 2 Jahren, ist das Disziplinarverfahren ebenfalls unverzüglich durchzuführen, wenn dies zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung notwendig erscheint (§ 5 Abs 5 S 2 HDG); in diesem Fall kann das Gericht aus Zweckmäßigkeitsgründen die Einleitung bzw Fortsetzung des Strafverfahrens verschieben (§ 501 Abs 2 S 2 StPO).
In allen anderen Fällen ist ein bereits eingeleitetes Disziplinarverfahren zu unterbrechen und die gerichtliche bzw verwaltungsbehördliche Entscheidung von der Disziplinarbehörde abzuwarten (§ 5 Abs 3 HDG).

[396] Vgl § 5 Abs 2 HDG. Isoliert betrachtet mag diese Norm eine Verletzung des Gebotes der Unschuldsvermutung darstellen; sie ist jedoch im Zusammenhang mit dem vorangehenden strafgerichtlichen Prozeß zu sehen, der ja gerade die (rechtskräftige) Feststellung einer Pflichtverletzung und der Schuld des Verdächtigen zum Gegenstand hat. Ergeben sich hingegen während des Disziplinarverfahrens (oder auch danach) neue, den Beschuldigten entlastende Beweise, so ist das Strafverfahren wiederaufzunehmen (vgl § 353 f StPO), wodurch ein allfälliges Disziplinarverfahren nichtig wird, da ihm seine materielle Grundlage entzogen worden ist.

[397] § 502 Abs 1 StPO weist ausdrücklich auf die Bestimmungen des § 177 StPO hin. Vgl oben C.1.1.

[398] Vgl Foregger/Kodek StPO6 653 f. Zum Festnahmerecht der Wachen vgl die Bestimmungen zum Wachdienst im Anhang zu den ADV iVm § 577 Abs 1 u 2 StG, der aufgrund Art 1 Z 8 S 2 MilStG (III. Hauptstück) noch in Geltung ist.

[399] Beachte § 503 Abs 1 HS 2 StPO iVm § 4 sowie § 5 Abs 5 HDG.

[400] § 503 Abs 1 u 2 StPO; zu den Mitteilungspflichten beachte darüberhinaus auch § 503 Abs 3 u 4 sowie § 504 StPO.






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