Kruzifix, noch einmal ...

Kreuze in den Klassenzimmern?

Carolinas Nachrichten Nr. 7/1995, S. 24–26


Al­so sprach Herr Stoi­ber En­de Sep­tem­ber an­läß­lich einer Ver­an­stal­tung zum The­ma „Das Kreuz bleibt — ge­stern, heu­te, mor­gen”: Nicht nur die Mehr­heit muß to­le­rant sein ge­gen­über der Min­der­heit, son­dern — in ge­wis­sen Fäl­len — auch die Min­der­heit ge­gen­über der Mehr­heit. Hört, hört.

Auszug aus der Bayerischen Volksschulordnung

Der laut­star­ke Pro­test aus Bay­ern ge­gen das Ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes zur Ent­fer­nung zweier zu­sam­men­ge­leim­ter Stück­chen Holz aus einem bay­ri­schen Klas­sen­zim­mer hat gu­te Grün­de. Zum einen wer­den von den Be­für­wor­tern des Ur­teils die in Bay­ern durch­aus le­ben­di­gen und sicht­ba­ren Tra­di­tio­nen mit den da­mit ver­bun­de­nen Emo­tio­nen ger­ne in den Vor­der­grund ge­rückt und als „reak­tio­när” ab­ge­tan.

Zum an­de­ren geht es aber — und das wird in den ge­hal­te­nen Re­den im­mer wie­der be­tont — nicht so sehr um die christ­li­che Re­li­gion (die ist näm­lich auch in Deutsch­land rei­ne Pri­vat­sa­che der Bür­ger), son­dern um die von die­ser Re­li­gion ver­mit­tel­ten Wer­te, auf de­nen auch die deut­sche Ver­fas­sung auf­ge­baut ist.

Schließ­lich aber geht es auch um eine ka­ta­stro­pha­le Fehl­in­ter­pre­ta­tion des Be­grif­fes „Grund­recht” als „Min­der­hei­ten­recht”. Ober­fläch­lich be­trach­tet mag die­se Deu­tung viel­leicht zwin­gend er­schei­nen, in Wahr­heit aber be­deu­tet sie in letz­ter Kon­se­quenz die Ab­schaf­fung der Grund­rech­te schlecht­hin.

Was die christ­li­chen Tra­di­tio­nen an­be­langt, so lau­fen in Bay­ern die Uh­ren ein­fach an­ders. Der Frei­staat ist ein ka­tho­li­sches Land mit we­ni­gen pro­te­stan­ti­schen In­seln wie et­wa die Stadt Nürn­berg. Kon­kur­renz­den­ken zwi­schen den Kon­fes­sio­nen fin­det man al­ler­dings sel­ten, Öku­me­ne, den öster­rei­chi­schen Ka­tho­li­ken oft ein Dorn im Auge, ist hier durch­aus le­ben­dig. Wer wirk­lich stark ist, kann es sich eben lei­sten, mit An­ders­den­ken­den zu re­den ...

Kel­sens Ideal vom po­si­ti­vi­sti­schen Rechts­sy­stem ist den Bay­ern fremd. Das „na­tür­li­che Rechts­emp­fin­den” ist dort mehr wert als ir­gend­eine meist un­be­kann­te Norm; schließ­lich wird die­ses Rechts­emp­fin­den auch stän­dig ge­pflegt; die re­gel­mä­ßi­gen Wahl­er­fol­ge der Christ­lich-So­zia­len Union et­wa sind eben­so ein Er­geb­nis des­sel­ben wie et­wa die Tat­sa­che, daß die bay­ri­sche Wirt­schaft im Ver­ant­wor­tungs­be­wußt­sein für ganz Deutsch­land in Bay­ern so vie­le Lehr­stel­len ge­schaf­fen hat, daß das lei­di­ge Pro­blem der Lehr­lings­aus­bil­dung grö­ßten­teils ge­löst ers­cheint. Na­tur­recht statt Po­si­ti­vis­mus als In­ve­sti­tion in die Zu­kunft? In Bay­ern wird be­wie­sen, daß das funk­tio­niert!

Grund­rech­te sind die Ba­sis der am Men­schen orien­tier­ten Ge­sell­schafts­for­men. Hi­sto­risch ge­se­hen sind sie Ab­wehr­rech­te ge­gen­über der staat­li­chen Ge­walt, die — ganz im christ­li­chen Sin­ne — ge­zwun­gen wird, den Ein­zel­nen zu re­spek­tie­ren und men­schen­wür­dig, mensch­lich zu be­han­deln. Sie sind Rech­te des Bür­gers, wen­den sich da­her nicht an ihn, son­dern an die ein­zus­chrän­ken­de Auto­ri­tät.

Die Ge­währ­lei­stung von Grund­rech­ten ist nicht nur gut für den ein­zel­nen Bür­ger, son­dern auch für den Staat: So­zia­ler und po­li­ti­scher Frie­den, Sta­bi­li­tät, Iden­ti­fi­ka­tion der Bür­ger mit ih­rem Staat und mit der De­mo­kra­tie so­wie die Mög­lich­keit, eine so­li­de Wirt­schaft auf­zu­bau­en und zu er­hal­ten sind als Er­geb­nis­se christ­li­cher Hal­tung Ga­ran­ten für das ge­sell­schaft­li­che Ge­fü­ge.

Grund­rech­te gel­ten für je­ne, für die sie ge­macht wur­den: für die Bür­ger eines Staa­tes. Aus­län­der sind kei­ne Mit­bür­ger (sonst wä­ren sie kei­ne Aus­län­der!), da­für aber Mit­men­schen und sol­len — ganz im christ­li­chen Sin­ne — eben­falls mensch­lich be­han­delt wer­den. Nicht zu­letzt des­halb gibt es ins­be­son­de­re für Staa­ten, de­ren ent­spre­chen­de Nor­men Frem­de nicht oder nur ge­ring­fü­gig be­rück­sich­ti­gen (Öster­reich ...), nicht nur den di­plo­ma­ti­schen Schutz des je­wei­li­gen Hei­mat­staa­tes (der be­kannt­lich bei Flücht­lin­gen und Staa­ten­lo­sen nicht ge­ge­ben ist), son­dern auch über­ge­ord­ne­te, weil um­fas­sen­de­re Grund­rechts­ka­ta­lo­ge wie et­wa die „All­ge­mein­e Er­klä­rung der Men­schen­rech­te” von 1948, die sich an al­le Staa­ten der Welt wen­det, oder, für den Eu­ro­päi­schen Raum, die „Eu­ro­päi­sche Kon­ven­tion zum Schut­ze der Grund- und Frei­heits­rech­te” von 1950, de­ren Ra­ti­fi­ka­tion und fak­ti­sche Um­set­zung Vor­aus­set­zung für die Mit­glied­schaft beim Eu­ro­pa­rat ist.

Grund­rech­te ge­wäh­ren ih­re An­sprü­che al­len Rechts­in­ha­bern glei­cher­ma­ßen. Sie schüt­zen nicht die Min­der­heit vor der Mehr­heit, denn die Rech­te von An­ge­hö­ri­gen einer Min­der­heit sind nicht an­ders zu wer­ten als je­ne von An­ge­hö­ri­gen einer Mehr­heit; viel­mehr schüt­zen sie die Min­der­heit — und die Mehr­heit! — vor un­zu­läs­si­gen Be­ein­träch­ti­gun­gen durch die Ge­samt­heit, durch die staat­li­che Macht. Je­de an­de­re Be­trach­tungs­wei­se wür­de fol­gen­schwe­re Be­ein­träch­ti­gun­gen des ge­sell­schaft­li­chen Frie­dens und so­mit Cha­os nach sich zie­hen. Man stel­le sich vor, eine Min­der­heit wie etwa die SPD-Wäh­ler in Bay­ern zö­ge vor das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und be­kä­me Recht mit einer Kla­ge auf Ent­fer­nung von Wai­gel-Pla­ka­ten, weil sie sich durch sel­bi­ge in ih­rer Ent­fal­tung be­ein­träch­tigt fühl­te — al­ler­dings oh­ne gleich­zei­tig die eige­nen Wahl­pla­ka­te zu ent­fer­nen ... End­lo­se Dis­kus­sio­nen, Strei­te­rei­en, Haar­spal­te­rei­en, ju­ri­sti­sche Ka­prio­len und Pa­ra­gra­phen­rei­te­rei­en, kurz­um die all­ge­mei­ne Ent­fer­nung von den Idea­len de­mo­kra­ti­scher Spiel­re­geln wä­re die Folge. Ver­ant­wor­tungs­lo­ser­wei­se wird hier ger­ne über­se­hen, daß da­durch auch ein Ver­las­sen der Grund­rech­te er­mög­licht wird — ge­nau je­ner Grund­rech­te, auf die sich die Kreuz­ent­fer­ner so hef­tig be­ru­fen!

Die Ver­tei­di­gung des Kreu­zes in den bay­ri­schen Schul­klas­sen ist da­her nicht die Ver­tei­di­gung des christ­li­chen Glau­bens ge­gen­über Nicht- oder An­ders­gläu­bi­gen, wie ger­ne be­haup­tet wird, denn Glau­be ist eine höchst­per­sön­li­che Sa­che, die der Ver­tei­di­gung durch In­sti­tu­tio­nen nicht be­darf. Es geht auch nicht nur um das Grund­recht der Glau­bens­frei­heit, die der bay­ri­schen Staats­ge­walt Nicht­ein­mi­schung in den per­sön­li­chen Glau­ben des Ein­zel­bür­gers, aber auch die Er­mög­li­chung frei­er Re­li­gions­aus­ü­bung ab­ver­langt.

Es geht viel­mehr um je­ne christ­li­chen Wer­te, die die Ge­währ­lei­stung von Grund­rech­ten er­mög­li­chen, ja ge­ra­de­zu ver­lan­gen. Die Tor­pe­die­rung die­ser Wer­te und ih­res Sym­bols durch den Grund­rechts­miß­brauch, wie er durch die Feh­lin­ter­pre­ta­tion der Ver­fas­sungs­rich­ter in falsch ver­stan­de­ner „Li­be­ra­li­tät” und „Neu­tra­li­tät” er­mög­licht wor­den ist, wird sich, wenn dem Wi­der­stand nicht ent­spre­chen­der Er­folg be­schie­den ist, sich als ge­fähr­li­cher Schuß nach hin­ten er­wei­sen, der zur De­gra­die­rung der Grund­rech­te er­heb­lich bei­trägt.

Auszug aus der Landesverfassung Tirols

In Ja­pan gibt es Re­li­gio­nen, die kaum oder gar kei­ne An­hän­ger mehr ha­ben. Trotz­dem be­su­chen vie­le Ja­pa­ner die Hei­lig­tü­mer die­ser Re­li­gio­nen und ver­nei­gen sich dort ehr­furchts­voll; sie drücken so ih­ren Re­spekt vor dem Glau­ben ih­rer Vor­fah­ren aus, mit dem sie eigent­lich gar nichts mehr zu tun ha­ben, von dem sie oft nicht ein­mal wis­sen, ob er in ih­rer Fa­mi­lie je ge­pflegt wor­den ist.

Die­ses to­le­ranz­för­dern­de Ver­hal­ten soll­te uns Eu­ro­pä­ern ein Bei­spiel sein. Denn Man­gel an Re­spekt vor dem Mit­men­schen, vor den Idea­len und Wer­ten, die ihn prä­gen, aber auch Man­gel an Re­spekt vor der Na­tur — Gott­lo­sig­keit mit einem Wort — ha­ben der Welt schon viel Schlech­tes be­schert.

Der ver­ant­wor­tungs­vol­le Christ braucht kein Kreuz an der Wand, er trägt es in Kopf und Herz. Aber all je­ne, die sich die­ser Ver­ant­wor­tung nicht be­wußt sind, soll es an die Wer­te mah­nen, auf die eine abend­län­di­sche Ge­sell­schaft auf­ge­baut ist.

Wenn die­se Leu­te das Kreuz ab­schaf­fen wol­len, der Ju­gend je­nes Sym­bol der To­le­ranz und Näch­sten­lie­be ent­zie­hen, das selbst von den Na­tio­nal­so­zia­li­sten im Drit­ten Reich auf­grund des spon­ta­nen mu­ti­gen Wi­der­stands der Chri­sten aus den Klas­sen­zim­mern nicht ent­fernt wer­den konn­te, so zu ver­hin­dern su­chen, daß die­se Ju­gend ent­spre­chend den Wer­ten eines ver­ant­wor­tungsbe­wuß­ten Chri­sten­tums er­zo­gen wird (die Ju­gend­i­chen zu ver­ant­wor­tungs­vol­len Chri­sten zu er­zie­hen, ist hin­ge­gen Auf­ga­be von Eltern und Kir­chen!), dann zei­gen sie da­mit ih­ren Man­gel an Re­spekt nicht nur vor der Re­li­gion und vor dem Glau­ben der Mit­men­schen, son­dern auch vor den Grund­wer­ten un­se­rer Ge­sell­schaft; sie wer­den so zu ih­ren Fein­den, die be­kämpft wer­den müs­sen, da­mit in ihr die Grund­rech­te wei­ter ge­währ­lei­stet wer­den kön­nen.

Nicht die Tat­sa­che des Nicht- oder An­ders­glau­bens, nicht der Wunsch nach (re­li­gions-)frei­er Er­zie­hung der eige­nen Kin­der, son­dern der scham­lo­se He­do­nis­mus mit all sei­ner Cha­rak­ter- und Rück­sichts­lo­sig­keit, der Miß­brauch der Grund­rech­te, der Ver­such der Än­de­rung un­ver­än­der­li­cher Wer­te durch ver­ant­wor­tungs­lo­se, be­wuß­te Miß­deu­tung ma­chen sol­che Men­schen — und je­ne, die ih­nen in ih­rem Vor­ha­ben be­wußt oder auch nur fahr­läs­sig hel­fen — zu übel­wol­len­den Außen­sei­tern.

Der den­ken­de Mensch, der ver­ant­wor­tungs­vol­le Christ, der über­zeug­te De­mo­krat, der ge­bil­de­te Abend­län­der und selbst­be­wuß­te Eu­ro­pä­er soll­te da­rauf eine adä­qua­te Ant­wort pa­rat ha­ben:

Das Kreuz bleibt — ge­stern, heu­te, mor­gen!


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