Wahr ist vielmehr ...

Gedanken zum Zeitgeschehen

Wien, 11. Jänner 1998


Milchmädchenrechnung

Die Empörung war groß in Kronenzeitung und Rotfunk: Fünfhundert (500!) Millionen Schilling haben also Herr und Frau Österreicher für Kracher und Feuerwerk in der Silvesternacht ausgegeben!

Unsere Nachbarn, die bösen Deutschen, haben laut nüchterner ZDF–Recherche noch ein wenig draufgelegt: 160 Millionen — Deutschmark!

Uns geht es einfach zu gut! Eine halbe Milliarde für Feuerwerk, aber nur ein paar Milliönchen für „Licht ins Dunkel”, und dabei muß die Regierung den Spendenbetrag noch verdoppeln, damit sich ein halbwegs herzeigbarer Betrag ergibt ...

Geht man aber davon aus, daß es etwa achtzig Millionen Deutsche und etwa acht Millionen Österreicher gibt, so ist das Ergebnis einer einfachen Rechnung nach Adam Riese, daß im Durchschnitt jeder Deutsche ungefähr vierzehn Schilling, jeder Österreicher hingegen mehr als viermal so viel, nämlich 62,50 Schilling, für die lärmende Silvesterbelustigung ausgegeben hat.

Den Österreichern geht es also mindestens viermal so gut wie den Deutschen.

Oder: Sie sind mindestens viermal blöder, so viel Geld für ein bißchen buntes Licht und Knallerei auszugeben.

Oder: Es hat jemand beim Schreiben der Pressemeldung den weitaus realistischeren fünfzig Millionen Schilling irrtümlich eine Null angehängt, was keinem auffallen konnte: Erstens ist es ohnehin scheißegal, und zweitens wird die passive und insbesondere die aktive Kritikfähigkeit der Journalisten hierzulande offenbar von der „Fähigkeit zur geschlechterneutralen Formulierung” konsumiert.

Oder: Es soll uns vorgegaukelt werden, daß die Österreicher es sich leisten können, eine halbe Milliarde einfach zu verpulvern.

Franz Josef Strauß hat einmal gesagt: „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.”

Und ich sage heute: „Ich glaube keiner Meldung, die ich nicht selbst manipuliert habe.”


1984

In Österreich dauert bekanntlich alles ein wenig länger. Das kann man als Nachteil, ja sogar als Provokation auffassen, bringt aber auch — zumindest gelegentlich — gewisse Vorteile.

Korrektheit ist eine Eigenschaft, die uns Couleurstudenten sehr naheliegt. Wir bemühen uns um ein korrektes Benehmen sowohl in der Öffentlichkeit als auch im kleinen Kreise, wir tragen korrekte, dem jeweiligen Anlaß entsprechende Kleidung, wir streben nach korrektem Umgang mit Bundesbrüdern, Familienmitgliedern und allen anderen Mitmenschen.

Unter der Abkürzung „P.C.” ist — nicht aus dem kommunistischen China oder anderen linkslinken, menschenverachtenden Regimen, von denen man so etwas ja gewohnt ist — aus den ach so toleranten und multikulturellen Vereinigten Staaten von Amerika die sogenannte politische Korrektheit — mit einiger Verspätung, dafür umso heftiger — zu uns gekommen. Mit ihrer Hilfe können insbesondere politische Minderheiten den jeweiligen Mehrheiten vorschreiben, wie diese ihre Sprache zu verändern haben, damit sich keine Minderheit mehr diskriminiert fühlen möchte.

„Kreatives Formulieren. Anleitung zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch”. Band XIII der Schriftenreiche der Frauenministerin enthält, von akademischen Sprachwissenschaftlerinnen natürlich geschlechtergerecht formuliert, geistreiche Sätze wie „Manche Suffixe sind nicht mehr produktiv”, was auf deutsch heißen soll: „Manche Nachsilben sind nicht mehr fruchtbar.” Ich, der ich das ganz schrecklich finde, schlage daher Alarm und rufe alle Bundesbrüder zu großzügigsten Geldspenden auf: Die Dynastie der Suffixe muß erhalten bleiben und der um sich greifenden Unfruchtbarkeit ein sofortiges Ende gesetzt werden, damit wir uns noch lange an vielen kleinen Suffixlein erfreuen können! Vivant, crescant, floreant ...

Aber so komisch ist das gar nicht. Die Reduktion der deutschen Sprache durch „Rechtschreibreform” und „political correctness” führt letztlich zu ihrer weiteren Schwächung und damit zum Kulturverlust in weiten Teilen Mitteleuropas! Unsere Sprache kann ohnehin schon kaum mehr mit der Allgemeinentwicklung Schritt halten, wie sehr deutlich erkennbar ist am Mangel eigener Wortentwicklungen inbezug auf technische Neuerungen — vom Computer bis zur „echt coolen play station”, wir werden geradezu überschwemmt mit neuen Fremdwörtern —, eine weitere Verarmung verhindert endgültig ihre Weiterentwicklung und bedingt damit viele neue Möglichkeiten zur Manipulation; letztlich ist es nämlich egal, ob einer Sprache massenhaft Fremdworte oder massenhaft Abkürzungen aufgedrängt werden!

Oceania läßt grüßen! Orwell hätte sein Buch 1979 schreiben sollen, dann hätten wir 1997 einen Grund mehr gehabt, über „Ingsoc” und „Newspeak” nachzudenken.

„The purpose of Newspeak was ... to make all other modes of thought impossible,” hat George Orwell im Jahre 1948 geschrieben. „Krieg ist Frieden — Freiheit ist Sklaverei — Ignoranz ist Stärke.”

„Das hätte es unter'm Hitler auch gegeben,” schreibe ich heute. „Männlichkeit ist Weiblichkeit — Wachsamkeit ist Denunziantentum — Totalitarismus ist Demokratie!”

Wehret den Anfängen, solange sie noch solche sind!


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