Der wundersame Spiegel

Ein Märchen, in dem einem Rotkappelzwerg eine Lektion erteilt wird

Carolinas Nachrichten Nr. 7/1995, S. 3 f



Die Re­pu­blik der Al­pen­zwer­ge war nicht im­mer eine Re­pu­blik; zu An­fang die­ses Jahr­hun­derts stan­den noch wür­di­ge Mo­nar­chen an der Spit­ze dieses Lan­des, und nicht nur die Ig­no­ranz des Pö­bels war da­ran schuld, daß dem heu­te nicht mehr so ist.

Im Land der Al­pen­zwer­ge gab und gibt es auch die Kap­pel­zwer­ge mit ih­ren ver­schie­de­nen bun­ten Bän­dern und Käpp­chen, von de­nen eini­ge gar flei­ßig stu­dier­ten, al­le aber vie­le Ge­mä­ße kap­pel­zwer­gi­schen Ger­sten­saf­tes ver­tilg­ten.

So saß auch jüngst ein Ver­tre­ter der Gat­tung „Rot­kap­pel­zwerg” beim küh­len Bie­re. Er war nett an­zu­se­hen in sei­nem an­thra­zit­grau­en An­zug, sei­nen da­zu pas­sen­den Strümpf­lein, dem wei­ßen, frisch ge­bü­gel­ten Hemd, sei­nem bun­ten Band und dem ro­ten Käpp­chen; sei­ne hel­le Haut war von der Ur­laubs­son­ne leicht ge­bräunt, auch scheint si­cher, daß sei­ne kla­ren, blau­en Augen und sein blon­der Schopf bis­her nicht oh­ne Wir­kung auf die weib­li­che Zwer­gen­welt ge­blie­ben sind.

Eigent­lich hät­te al­les in Ord­nung sein kön­nen; un­ser Rot­kap­pel­zwerg aber hat­te Zor­nes­fal­ten auf seiner Stirn: Ihm ge­gen­über näm­lich saß ein gar nicht so adret­ter Lang­haar­zwerg, der ge­ra­de zu ihm mit einem hä­mi­schen Grin­sen ge­sagt hat­te: „Ha, du Rot­käpp­chen, du! Von rot nach braun ist's nur ein klei­ner Schritt! Ich wer­de dir vor Augen füh­ren, wes Gei­stes Kind du bist!”

Und so wur­de ein Zwerg in den Raum her­ein­ge­führt, der hat­te eine grü­ne Haut, ro­te Augen und blaue Haa­re — auch für un­se­ren Rot­kap­pel­zwerg ein un­ge­wohn­ter An­blick. „Nun?” höhn­te der Lang­haar­zwerg. „Du brauchst dei­ne Ver­ach­tung nicht zu ver­ber­gen; den da magst du si­cher nicht, he?”

„Du Ah­nungs­lo­ser!” rief da der Rot­kap­pel­zwerg. „Weißt du nicht, daß mein Käpp­chen auch Zei­chen mei­nes Glau­bens ist, der mir Ach­tung vor mei­nen Mit­zwer­gen ge­bie­tet und die­se so für mich zur Selbst­ver­ständ­lich­keit macht, ganz egal, wel­che Haut-, Augen- oder Haar­far­be die­se Mit­zwer­ge auch im­mer ha­ben mö­gen?!”

Doch sein Ge­gen­über ließ nicht locker. Ein an­de­rer Zwerg wur­de her­ein­ge­führt, der hat­te eine eigen­ar­ti­ge oran­ge­far­be­ne Schär­pe und ein schwar­zes Käpp­chen auf dem Kopf. „Der hier pfeift auf dei­nen Glau­ben, er hat einen an­de­ren. Sie her, er ist ge­fes­selt! Du darfst ihn ru­hig ver­prü­geln, er kann sich nicht weh­ren ...”

„Willst du den gar nichts ler­nen?” don­ner­te der Rot­kap­pel­zwerg. „So nimm zur Kennt­nis, daß mir Glau­be und Ge­wis­sen der­lei Un­sinn ver­bie­ten! Die­ser Zwerg kann glau­ben, was und wo­ran er will, so­lan­ge er mir mei­nen Glau­ben läßt; gib ihn so­fort frei!”

Er­schrocken ge­horch­te der Lang­haar­zwerg, gab aber nicht auf, son­dern führ­te noch ein be­son­de­res Exem­plar an zwerg­li­cher Exi­stenz vor: Es hat­te ein li­la Röck­chen an, ein ro­sa Ma­scherl und ein gel­bes Hemd­chen. „Oh weh,” dach­te der Rot­kap­pel­zwerg, als er das bren­nes­sel­grü­ne Kopf­tuch sah, „wie kann man sich nur so klei­den?!” Zu al­lem Über­fluß hat­te das Zwerg­lein auch noch knall­ro­te Socken an, und wenn es über­haupt et­was auf der Welt gibt, das einem Rot­kap­pel­zwerg Sod­bren­nen und noch an­de­re, schlim­me­re Zu­stän­de ver­ur­sacht, dann sind das knall­ro­te Socken!

„Na?” frag­te der Lang­haar­zwerg. „Soll ich dem da nicht doch noch ein paar Hand­schel­len an­le­gen?”

Ganz ge­gen sei­ne Ge­wohn­heit ge­riet der Rot­kap­pel­zwerg jetzt end­gül­tig in Ra­ge. „Durch­schaut ha­be ich dich, du er­bärm­li­cher Wicht! Du selbst hast je­ne Vor­ur­tei­le, die du mir ger­ne in die Schu­he schie­ben willst, du selbst trägst mit dei­ner Ah­nungs­lo­sig­keit und Dumm­heit die Schuld da­ran, daß sich Zwie­tracht und Dis­kri­mi­nie­rung un­ter den Al­pen­zwer­gen aus­brei­ten! Mein Glau­be, mein Ge­wis­sen und mei­ne Ver­nunft ge­bie­ten mir, dei­ne gott- und herz­lo­sen Ma­chen­schaf­ten zu be­kämp­fen, wo im­mer ich sie vor­fin­de! Leg dir dei­ne Hand­schel­len sel­ber an, du hast sie ver­dient. Und jetzt he­be dich hin­weg, fort mit dir!”

Noch lan­ge, nach­dem der Lang­haar­zwerg mit einem Auf­schrei des Ent­set­zens ent­wi­chen war, konn­te sich der Rot­kap­pel­zwerg nicht be­ru­hi­gen. Selbst am näch­sten Mor­gen, auf dem Weg zur zwerg­lich–uni­ver­si­tä­ren Schu­le, wo er doch sei­ne Ge­dan­ken ganz beim Zwer­gen­recht hät­te ha­ben sol­len, är­ger­te er sich im­mer noch über die Dumm­heit und Ar­ro­ganz, die lei­der nicht nur bei die­sem einen Lang­haar­zwerg zu fin­den war. „Hat das denn gar kein En­de? Fünf­zig Jah­re nach dem gro­ßen Zwer­gen­krieg soll­ten es eigent­lich alle bes­ser wis­sen”, dach­te er.

Und dann sah er SIE!



Wie aus dem Nichts ist sie auf­ge­taucht und in sein Le­ben ge­tre­ten, die Zwer­gen­maid. Da stand sie nun vor ihm, mit ih­rer grü­nen Haut, ihren ro­ten Augen und den blau­en Haa­ren.

We­der Glau­be noch Ge­wis­sen pro­te­stier­ten, ab­ge­schal­tet war die Ver­nunft des Rot­kap­pel­zwer­ges, nur sein Herz poch­te laut: „Die­se ist's! Die und kei­ne an­de­re!”

Und da nahm er sich je­nes po­chend Zwer­gen­herz und frag­te die Zwer­gen­maid ar­tig, ob er sie wohl ein Stück be­glei­ten dürf­te, und ih­re freund­li­che Ant­wort er­mu­tig­te ihn sehr.

Und so ka­men ein­an­der der Rot­kap­pel­zwerg (in sei­nem schmucken an­thra­zit­grau­en An­zug) und die Zwer­gen­maid (in ih­rem lil­a Röck­chen, dem rosa Schal und der gel­ben Blu­se) schnell nä­her, und noch ehe sie an der Uni­ver­si­tät an­ge­langt wa­ren, hat­te sie ihm auch das schwar­ze Käpp­chen un­ter ih­rem bren­nes­sel­grü­nen Kopf­tuch, ihre oran­ge­far­be­ne Schär­pe und (oh doch, hoch­ge­schätz­ter und ge­neig­ter Le­ser: es muß­te ein­fach so kom­men!) ih­re knal­lro­ten Söck­chen ge­zeigt, die sie trug.

Lieb und ver­hei­ßungs­voll strahl­te sie ihn an, da war es um un­se­ren Rot­kap­pel­zwerg gänz­lich ge­sche­hen. Und als sie auf sei­ne Fra­ge, ob sie künf­tig Freud und Leid zwerg­lich mit ihm tei­len wol­le, mit „ja” ant­wor­te­te; als die bei­den dann kurz­e Zeit da­rauf wirk­lich ein­an­der hei­ra­te­ten, war Rot­kap­pel­zwergs Glück per­fekt.



Nach eini­ger Zeit aber über­kam den Rot­kap­pel­zwerg doch die Neu­gier. Und so frag­te er sein lie­bend Zwer­gen­weib, ob es ihm denn gar nichts aus­ge­macht hät­te, so einen mit einem ro­ten Käpp­chen auf dem Kopf zu hei­ra­ten — noch da­zu, wo doch die Kap­pel­zwer­ge ge­ne­rell einen schreck­li­chen Ruf hät­ten.

Sie aber nahm ihn bei der Hand und führ­te ihn vor sei­nen gro­ßen Spie­gel. „Nein, nein, sieh nur ru­hig hin,” er­mun­ter­te sie ihn mit einem Lä­cheln, als der Rot­kap­pel­zwerg er­schrocken zu­rück­wich.

Er konn­te sich kaum wie­der­er­ken­nen, un­ser rot­be­kap­pel­ter Zwerg: Knall­gelb war sei­ne Haut, leuch­tend ro­sa sei­ne Haa­re, oran­ge sei­ne Augen. Und die Schär­pe, die er plötz­lich trug, war him­mel­blau, gold­be­stickt mit Pa­ra­gra­phen­zei­chen und Jah­res­zah­len. Sein Bein­kleid war aus rot­lackier­tem Le­der sein Hemd von Mot­ten so zer­fres­sen, daß man die Far­be nicht mehr er­ken­nen konn­te. Das ro­te Käpp­chen aber war zu einem Zy­lin­der aus grau­em Gips ge­wor­den, der an vie­len Ecken und En­den be­reits zu zer­bröckeln be­gon­nen hatte.

„Du mußt mich wirk­lich sehr lieb ha­ben,” mur­mel­te er ver­stört, und wäh­rend des fol­gen­den, in­nig–lan­gen Kus­ses schloß er seine Augen, ver­lor sich ganz in ih­rer Lie­be.

Als er aber sei­ne Augen wie­der öff­ne­te, ihre hel­le, von der Ur­laubs­son­ne leicht ge­bräun­te Haut sah, ih­re strah­lend blau­en Augen und ihr hüb­sches, blon­des Haar, wäh­rend er auch ih­re hel­le Blu­se und den ele­gan­ten, an­thra­zit­grau­en Rock be­wun­der­te, die ih­re gu­te Fi­gur sehr zur Gel­tung kom­men lie­ßen, er­kann­te er die Lek­tion, die ihm ge­ra­de er­teilt wor­den war.

So­fort eil­te er auf die Bu­de und er­zähl­te die Ge­schich­te sei­nen Kap­pel­brü­dern, von de­nen eini­ge be­däch­tig nick­ten.



Die­je­ni­gen aber, die so­gar ver­stan­den ha­ben, mö­gen sich die Er­zäh­lung des Kap­pel­zwer­ges sehr zu Her­zen neh­men und künf­tig to­le­ran­ter sein in ih­rem Ur­teil über an­de­re Mit­zwer­ge — be­son­ders über je­ne, die ih­ren Kap­pel­brü­dern na­he­ste­hen, meint Euer Rot­kap­pel­zwerg

A–Punkt



P.S.: Mitt­ler­wei­le ist bei un­se­rem glück­li­chen Paar Nach­wuchs un­ter­wegs. Man darf wohl ge­spannt sein, wel­che Far­be Haut und Haa... — oh, oh!!!


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