Wie sein Verfasser versichert: nur ein Märchen!
Carolinas Nachrichten Nr. 5/1995, S. 15–18
Lieber Rotkappelzwerg A–Punkt!
Als Bürger der Republik der Alpenzwerge und eifriger Leser Deiner Märchen möchte ich Dir eine Geschichte erzählen (und zwar, weil mir das leichter fällt, so, als ob ich sie erlebt hätte; natürlich handelt es sich aber nur um ein Märchen), die mich sehr bewegt hat, und Dich um Deine Meinung und Deinen Rat bitten. Vor geraumer Zeit saß ich mit einem Bekannten und einem Grünkappelzwerg in einem Zimmer. Wir redeten über dies und das, über Gott und die Zwergenwelt, wie das bekappelte und nicht bekappelte Alpenzwerge so tun, wenn sie sonst nichts zu tun haben. Als mein Bekannter sich endlich verabschiedet hatte — Du mußt wissen, lieber A–Punkt, daß es manchmal unendlich mühsam ist, sich mit ihm zu unterhalten — und gegangen war, sah mich der Grünkappelzwerg lange an, lächelte dann verschmitzt und meinte: „Oh, oh! Vor Dir weiß eigentlich niemand nichts Genaues nicht; es würde mich aber gar nicht wundern, wenn Du irgendwo in diesem Land der Alpenzwerge ein hübsches Zwergenmädel hättest, vielleicht sogar ein oder zwei (oder drei?) Exemplare zwerglichen Nachwuchses ... Habe ich recht?” „Daher weht also bei dir der Wind,” dachte ich und lächelte unverbindlich zurück. Es stimmt schon, ich gehe mit meinem Privatleben nicht hausieren, wie manche Kappelzwerge das gerne tun. Und ich weiß, daß die Kappelzwerge, mit denen ich seit einiger Zeit sehr häufig zu tun habe, Gerüchte über alles lieben; ist ihre Gerüchteküche erst einmal in Betrieb, kann sie kein Argument, keine Wahrheit und keine Lüge mehr aufhalten. Denn wer nicht freiwillig sein zwerglich Innerstes vor ihnen nach außen kehrt, hat etwas zu verbergen, und wer auf entsprechende Fragen nicht die gewünschte Auskunft gibt, muß sich eben Nachforschungen hinter seinem Rücken gefallen lassen; denn die Kappelzwerge, die ich meine, sind gar nicht neugierig, sie wollen nur alles wissen. Und manche von ihnen glauben, auch ein Recht auf Information und Rechenschaft zu haben (weil sie eben die Kappelzwerge sind), Schweigen kann daher auf gar keinen Fall geduldet werden. So ist das nun einmal. Ich zog es trotzdem vor, den Mund zu halten, weder zu bestätigen noch zu dementieren. „Dazu sage ich Dir lieber nichts,” antwortete ich. Die Kappelzwerge, mit denen ich über Privates plaudere, suche ich mir nämlich gerne selber aus, und Verschwiegenheit ist dabei ein durchaus wichtiges Kriterium. Und so hörte ich dem Grünkappelzwerg lieber zu. Mein Gegenüber aber hub an, wortreich zu schildern, was er alles über mich und meine Familie, mein Liebesleben und meine sonstigen zwischenzwerglichen Beziehungen wußte (ich muß gestehen, seine Phantasie überraschte mich einigermaßen!). Immer wieder betrachtete er mich prüfend, versuchte, irgendwelche deutbaren Reaktionen zu entdecken — aber vergebens. Schließlich einigte er sich darauf (mit sich selbst, natürlich!), daß ich in den südlichen Gefilden der Alpenrepublik eine Geliebte und zwei Kinder haben müsse; qui tacet, consentire videtur. |
Einige Zeit war daraufhin verstrichen, einige Gemäße kappelzwergischen Gerstensaftes waren vernichtet worden, als der Zufall es wollte, daß ich eines Abends wieder allein mit besagtem Grünkappelzwerg beisammensaß. Warum es mir so schwer fiele, über mich zu reden, warum ich mich nicht zu meiner Familie bekenne (denn schließlich seien uneheliche Kinder heute keine Schande mehr), fragte er mich.
„Suche nicht bei mir, was Du bei Dir selbst finden möchtest”, erwiderte ich ihm. „Würdest Du nicht so viele Fragen stellen, sondern besser zuhören, bekämst Du manche Antwort, ohne überhaupt eine Frage gestellt zu haben. Du aber hast Angst vor Dir selbst, Deine eigenen Sensibilität, und darum verdrängst Du sie und versteckst Dich hinter Deinen Fragen. Aber wenn Du nicht versuchst, ehrlich zu Dir selbst zu sein, wirst Du eines Tages aufwachen und verzweifeln an der großen Leere, die Du Dir selbst — quasi als Schutzmantel — um Dich herum geschaffen hast.” „Ich sehe schon, Du magst mich nicht,” meinte er schließlich, nachdem er erneut — mehrere Stunden lang und unter Anwendung verschiedenster kappelzwergischer und nichtkappelzwergischer Tricks — versucht hatte, doch noch das eine oder andere Gerücht bestätigt zu finden und so seinem Schutzwall vor sich selbst ein weiteres Steinchen hinzuzufügen. Oh nein, Du mein Grünkappelzwerg, im Gegenteil: Ich verdanke Dir viel, auch wenn Du das nie zur Kenntnis genommen hast; und ich mag Dich sehr, denn ich habe Dir gut zugehört, Dich schätzen gelernt, Dich in Vielem erkannt, wenn Du das auch immer verhindern wolltest. |
Und doch: Selbst wenn er seinen Schutzwall überwunden und sich mir oder einem anderen gegenüber geöffnet hätte — es scheint unmöglich, einen Menschen ganz zu erfassen, ganz zu erkennen. Die Einbildung, dazu fähig zu sein (oder gar das Recht zu haben, jemanden zu dieser Öffnung zu zwingen), ist wohl Anmaßung, Hochmut, grenzenloser Größenwahn.
Vor ein paar Wochen nämlich hat sich der Grünkappelzwerg umgebracht. Einfach so. Ohne etwas zu sagen, ohne etwas zu zeigen. Oder habe nur ich nichts bemerkt? Seine Kappelzwerge jedenfalls hängten eine schwarze Fahne auf, verkündeten offiziell ihre Trauer und heulten „Rotz und Wasser” während der Beerdigung ihres toten Bruders. Gelegentlich wurde auch darüber gejammert, wie der Grünkappelzwerg ihnen das hatte antun können. Und danach trafen sie einander, und fast jeder von ihnen konnte die eine oder andere Geschichte von ihm erzählen, die eine oder andere Anekdote zum Besten geben oder die eine oder andere Mutmaßung über die Beweggründe, die den Grünkappelzwerg zum Freitod veranlaßt haben, äußern. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid — ein sehr nützlicher Mechanismus, wie ich meine, sehr im Sinne des Grünkappelzwergs, der sicher niemandem Schmerzen und Kummer bereiten wollte! Aber nur bei ganz wenigen von ihnen — vornehmlich jenen, die sich den Diskussionen und Gerüchten weitgehend entzogen — konnte ich feststellen, daß ihnen der Grünkappelzwerg wirklich etwas bedeutet hatte. Die Ohnmacht aber, die Hilflosigkeit, die Unfähigkeit, in einem solchen Fall einzugreifen, zu helfen, ihn vorauszusehen, finde ich schrecklich; das macht mich nicht nur traurig, sondern auch wütend (was zugegebenermaßen sehr egoistisch ist). Gibt es denn da wirklich gar nichts, was man tun könnte? |
Hat der Grünkappelzwerg vielleicht nicht mehr auf die Hilfe seiner Mitmenschen vertraut, so war er im Vertrauen und Glauben an Gott doch stark. So sei Gott seiner Seele gnädig. R.I.P.
Anonymos
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Lieber Freund!
Das Recht, über Dich selbst zu schweigen, mußt Du auch dem Grünkappelzwerg — und allen anderen auch — zugestehen. Hätte er gewollt, daß Du weißt, warum er diesen Weg gewählt hat, den er gegangen ist, hätte er es Dir wohl auf irgendeine Art gesagt. Ich freue mich, daß Du Dir Gedanken darüber machst, denn die sich immer weiter ausbreitende Gleichgültigkeit anderen Mitmenschen gegenüber finde ich einfach schrecklich. Bedenke aber, daß es Dir genausowenig zusteht, andere über ihn zu befragen, wie ihm damals, als er Dich über Dein Privatleben ausfragen wollte. Respektiere ihn und seine Entscheidung, auch wenn Dir nicht gefällt, was er getan hat, und schwätze nicht über ihn, wie es andere tun. Fördere nicht das Gerücht über ihn nach seinem Tode, selbst wenn Dich das Gerücht über Dich selbst zu Deinen Lebzeiten nicht weiter tangiert — denn kein Gerücht ist besser als ein anderes! Weil Du ihm aber offenbar näher gestanden bist als so mancher, der sich rühmte, sein Freund und Bruder gewesen zu sein und ihn gekannt zu haben, und damit der Grünkappelzwerg wenigstens in Deiner Erinnerung weiterleben kann, ohne Dir dabei weh zu tun oder gar Schuldgefühle hervorzurufen (denn, wie Du richtig geschrieben hast, wäre dies gar nicht in seinem Sinne), möchte ich Dir — einfach zum Nachdenken — zwei Zitate aus einem meiner liebsten Bücher, Hermann Hesses „Steppenwolf”*, ans Herz legen. So ist etwa im „Traktat vom Steppenwolf” zu lesen: |
„... um vielleicht am Ende doch noch den Sprung ins Weltall wagen zu können, müßte solch ein Steppenwolf einmal sich selbst gegenübergestellt werden, müßte tief in das Chaos der eigenen Seele blicken und zum vollen Bewußtsein seiner selbst kommen. Seine fragwürdige Existenz würde sich ihm alsdann in ihrer ganzen Unabänderlichkeit enthüllen, und es würde ihm fernerhin unmöglich werden, sich immer wieder aus der Hölle seiner Triebe in sentimental philosophische Tröstungen und aus diesen wieder in den blinden Rausch seines Wolftums hinüberflüchten. Mensch und Wolf würden genötigt sein, einander nackt in die Augen zu sehen. Dann würden sie entweder explodieren oder für immer auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würden unter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.”
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Und wenn Du einige Seiten weiterliest, sollst Du bedenken, daß nicht jeder Mensch von einer Hermine gefunden wird, nicht jedem, der es nötig hat, rechtzeitig ein Spiegel vorgehalten wird:
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„Du hattest ein Bild vom Leben in dir, einen Glauben, eine Forderung, du warst zu Taten, Leiden und Opfern bereit — und dann merktest du allmählich, daß die Welt gar keine Taten und Opfer und dergleichen von dir verlangt, daß das Leben keine heroische Dichtung ist, mit Heldenrollen und dergleichen, sondern eine bürgerliche gute Stube, wo man mit Essen und Trinken, Kaffee und Strickstrumpf, Tarockspiel und Radiomusik vollkommen zufrieden ist. Und wer das andere will und in sich hat, das Heldenhafte und Schöne, die Verehrung der großen Dichter oder die Verehrung der Heiligen, der ist ein Narr und ein Ritter Don Quichotte. Gut. Und mir ist es ebenso gegangen, mein Freund! Ich war ein Mädchen von guten Gaben und dafür bestimmt, nach einem hohen Vorbild zu leben, hohe Forderungen an mich zu stellen, würdige Aufgaben zu erfüllen. Ich konnte ein großes Los auf mich nehmen, die Frau eines Königs sein, die Geliebte eines Revolutionärs, die Schwester eines Genies, die Mutter eines Märtyrers. Und das Leben hat mir nur eben erlaubt, eine Kurtisane von leidlich gutem Geschmack zu werden — schon das ist mir schwer genug gemacht worden! So ist es mir gegangen. Ich war eine Weile trostlos, und ich habe lange Zeit die Schuld an mir selber gesucht. Das Leben, dachte ich, muß doch schließlich immer recht haben, und wenn das Leben meine schönen Träume verhöhnte, so dachte ich, es werden eben meine Träume dumm gewesen sein und unrecht gehabt haben. Aber das half gar nichts. Und weil ich gute Augen und Ohren hatte und auch etwas neugierig war, sah ich mir das sogenannte Leben recht genau an, meine Bekannten und Nachbarn, fünfzig und mehr Menschen und Schicksale, und da sah ich, Harry: meine Träume hatten recht gehabt, tausendmal recht, ebenso wie deine. Das Leben aber, die Wirklichkeit, hatte unrecht. Daß eine Frau von meiner Art keine andere Wahl fand, als an einer Schreibmaschine im Dienst eines Geldverdieners ärmlich und sinnlos zu altern, oder einen solchen Geldverdiener um des Geldes willen zu heiraten, oder aber eine Art von Dirne zu werden, das war ebensowenig richtig, als daß ein Mensch wie du einsam, scheu und verzweifelt nach einem Rasiermesser greifen muß. Bei mir war das Elend vielleicht matieriell und moralisch, bei dir mehr geistig — der Weg war der gleiche. Glaubst du, ich könne deine Angst vor dem Foxtrott, deinen Widerwillen gegen die Bars und Tanzdielen, dein Sichsträuben gegen Jazzmusik und all den Kram nicht verstehen? Allzu gut verstehe ich sie, und ebenso deinen Abscheu vor der Politik, deine Trauer über das Geschwätz und verantwortungslose Getue der Parteien, der Presse, deine Verzweiflung über den Krieg, über den gewesenen und über die kommenden, über die Art, wie man heute denkt, liest, baut, Musik macht, Feste feiert, Bildung betreibt! Recht hast du, Steppenwolf, tausendmal recht, und doch mußt du untergehen, Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zuviel. Wer heute leben und seines Lebens froh sein will, der darf kein Mensch sein wie du und ich. Wer statt Gedudel Musik, statt Vergnügen Freude, statt Geld Seele, statt Betrieb echte Arbeit, statt Spielerei echte Leidenschaft erlangt, für den ist diese hübsche Welt hier keine Heimat ...”
Und wenn Du noch ein wenig besser verstehen willst, darfst Du auch ruhig ein paar Seiten mehr lesen, rät Dir Dein Rotkappelzwerg A–Punkt |
* Hermann Hesse, Steppenwolf. Bibliothek Suhrkamp, Band 226, Frankfurt/Main 1972, S. 62 f. sowie 164 ff.
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