Die Mitte: Verrat am Ideal oder demokratische Notwendigkeit?

Über Strömungen und Gegen–Strömungen

Carolinas Nachrichten Nr. 5/1995, S. 3–5



„Love, Peace And Happiness”

Die Sech­zi­ger hat­ten wirk­lich DIE Lö­sung für all un­se­re Pro­ble­me! Ein paar Blüm­chen ins Haar, ein lau­ter Ruf nach Frei­heit, wie im­mer sie auch be­schaf­fen sei, und schon rei­chen ein­an­der al­le Men­schen die Hand und lie­ben ein­an­der. Wirf dei­ne Komp­le­xe, Hem­mun­gen und Neu­ro­sen und den gan­zen au­to­ri­tä­ren Kram, den dir dei­ne El­tern und Leh­rer auf­ge­zwun­gen ha­ben, über Bord, ge­nie­ße den Augen­blick, schon mor­gen kannst du tot sein; Wood­stock war­tet auf dich: give me an F...!


Lockruf der Freiheit? „Un­ter den Talaren — stinkt der Mief von tausend Jahren!” rief man an den Uni­ver­si­tä­ten in Deutsch­land und Öster­reich; höch­ste Zeit, die re­ak­tio­nä­ren Ver­kru­stun­gen auf­zu­bre­chen, die bestehenden Struk­tu­ren zu zer­schla­gen, der Re­vo­lu­tion der Lie­be und Gewalt­frei­heit zum Durch­bruch zu ver­hel­fen, und zwar mit al­len Mit­teln (na­tür­lich auch je­nem der Ge­walt: Der Zweck hei­ligt die Mit­tel!). Und im üb­ri­gen brau­chen wir auch kei­ne Atom­kraft­wer­ke, denn un­ser Strom kommt aus der Steck­do­se.

Blau­äu­gig folg­te eine gan­ze Ge­ne­ra­tion den meist nicht ganz so blau­äu­gi­gen neu­en Füh­rern. Das ge­schicht­li­che Stim­mungs­pen­del war von re­ak­tio­när auf re­vo­lu­tio­när ge­schwun­gen — eine Be­we­gung, die so stür­misch schien, daß sie vie­len be­reits als Recht­fer­ti­gung für sich selbst ge­nüg­te. Ver­än­dern wir schnell die Welt (be­vor das an­de­re für uns tun)!


Die Folgen

Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen der west­li­chen Ge­sell­schaft wur­den zwar sicht­bar, in ih­rer Trag­wei­te aber noch im­mer stark un­ter­schätzt. Im Ge­gen­teil: Ge­sell­schaft wur­de all­ge­mein als Zwang emp­fun­den, der mög­lichst ab­ge­schüt­telt wer­den muß. Kaum je­mand dach­te aber da­rüber nach, daß es et­wa größt­mög­li­che Frei­heit für den Ein­zel­men­schen nur dann ge­ben kann, wenn er ent­we­der völ­lig al­lei­ne, oh­ne jeg­li­chen Kon­takt zu an­de­ren Men­schen lebt, oder aber, daß die Ge­mein­schaft, in der er lebt, ihm die­se Frei­heit ga­ran­tiert. Und schon gar nicht wur­de da­rüber nach­ge­dacht, daß man auch an die­ser Ge­mein­schaft teil­neh­men, das heißt et­was bei­tra­gen, sie wei­ter­ent­wickeln muß, an­statt sie ab­zu­schaf­fen, da­mit die­se Ga­ran­tie mög­lich wird.

Erst lan­ge nach­dem die­se Be­we­gung ih­re stür­mi­sche Pha­se hin­ter sich ge­bracht, ih­ren Schwung weit­ge­hend ein­ge­büßt hat­te, mach­te sich eine ge­wis­se Er­nüch­te­rung breit. Die Er­neue­run­gen um je­den Preis, die re­vo­lu­tio­nä­re An­pas­sung der Be­dürf­nis­se am je­wei­li­gen Mo­ment hat­ten, so stell­te sich her­aus, auch ne­ga­ti­ve Fol­gen — zu er­wäh­nen wä­ren hier bei­spiels­wei­se die ver­mehr­te Um­welt­zer­stö­rung (et­wa durch die er­wähn­ten Atom­kraft­wer­ke, die wir viel­leicht wirk­lich nicht un­be­dingt brau­chen?) oder ein ver­mehr­tes Schei­tern zwi­schen­mensch­li­cher Be­zie­hun­gen al­ler Art.

© 1995/1999 Christoph Ledel — Salzburg

Im ge­sell­schafts­re­le­van­ten recht­li­chen Be­reich hat klein­li­cher Po­si­ti­vis­mus — vor al­lem in Öster­reich — et­wa Grund– und Frei­heits­rech­te im­mer ex­ak­ter zu de­fi­nie­ren ver­sucht, sie da­durch aus ih­rem na­tur­recht­li­chen Ge­samt­zu­sam­men­hang ge­ris­sen und so zur simp­len Rechts­norm ge­macht. Blau­äu­gig hat man ge­glaubt: je ge­nau­er die De­fi­ni­tion, de­sto bes­ser das Recht. Als Kon­se­quenz die­ser gan­zen Ent­wick­lung muß man fest­stel­len, daß der Bür­ger nicht mehr frei ist, weil er es sein soll, schon gar nicht, weil er es sein will, son­dern des­we­gen und nur in­so­weit, wie es „das Recht” und so­mit der Ge­setz­ge­ber zu­läßt. Und das kann ein biß­chen mehr, aber auch ein biß­chen we­ni­ger sein — und was ein biß­chen ist, be­stimmt na­tür­lich auch der Gesetz­ge­ber. Der kann sich na­tür­lich auch ver­än­dern, und ein Recht kann zum ob­so­let ge­wor­de­nen Selbst­zweck, zur Augen­aus­wi­sche­rei de­gra­diert wer­den ...


Liberalismus als Ausweg?

Nach der Re­ak­tion, die nicht be­frie­di­gend war, weil sie statt Wer­te nur mehr lee­re Hül­len an­zu­bie­ten hat­te, und der Re­vo­lu­tion, die Wer­te nicht durch Ak­tio­nis­mus er­set­zen konn­te, weil sie Wer­te gar nicht kann­te, such­te man al­so — vor al­lem in der Po­li­tik — nach einem Weg, der für mög­li­chst vie­le Mit­glie­der der zu re­gie­ren­den Ge­sell­schaft auf län­ge­re Sicht ak­zep­ta­bel sein könn­te: den Weg der Mit­te.

Die­ser Weg der Mit­te soll­te von je­dem ein biß­chen ha­ben: ein paar Blüm­chen im Haar — aber nicht zu vie­le, ein paar Par­la­men­ta­rier/In­nen in Kar­tof­fel­sack­mo­de, Pull­over oder Ma­scherl am Kra­gen — aber nicht zu vie­le, ein paar Ali­bi–Groß­mäu­ler in der Po­li­tik — aber nicht zu vie­le, in paar Al­ko­ho­li­ker und Ob­dach­lo­se in der Stadt — aber nicht zu vie­le, ein paar Aus­län­der im Land — aber (na­tür­lich!) nicht zu vie­le ...

Auch der Li­be­ra­lis­mus kommt oh­ne Wer­te aus; er ist ein biß­chen re­vo­lu­tio­när, denn er orien­tiert sich am mo­men­ta­nen Be­dürf­nis; er ist auch ein biß­chen re­ak­tio­när, denn die Ver­än­de­run­gen tre­ten — be­son­ders dann, wenn sie drin­gend not­wen­dig wä­ren — erst mit reich­li­cher Ver­spä­tung — wenn über­haupt — ein.


Wir lernen aus der Geschichte ...

... daß wir nichts aus der Ge­schich­te ler­nen. Hät­ten wir näm­lich et­was ge­lernt, so hät­ten wir ge­wußt, daß je­de Idee, je­de Strö­mung au­to­ma­tisch eine Ge­gen–Idee, eine Ge­gen–Strö­mung her­vor­ruft. Und die Ge­gen–Strö­mung einer Heu­te-so-mor­gen-an­ders–Po­li­tik mit ge­le­gent­li­chem, aber im­mer zeit­ver­zö­ger­tem Er­folgs­ein­tritt, da­für aber star­ken Ab­nüt­zung­ser­schei­nun­gen, ist der lau­te Ruf „back to the roots!”: zu­rück zu den Ideo­log­ien links und rechts von der Mit­te mit ih­ren kla­ren, ein­fa­chen, so ein­leuch­tend-ver­füh­re­ri­schen Schlag­wor­ten. Je ra­di­ka­ler die Ab­gren­zung vom zä­hen Ein­heits­brei, den die Mo­de der Mit­te dar­stellt, de­sto bes­ser, bis die­se Ra­di­ka­li­tät ge­nug ge­wu­chert hat, um durch eine brei­te An­hän­ger­schaft sa­lon­fä­hig und da­mit selbst zur Mo­de zu wer­den.

So weit, so gut. Das Pen­del muß sich be­we­gen, denn oh­ne Be­we­gung gibt es kei­ne Ent­wick­lung, und eine Ge­sell­schaft, die sich nicht ent­wickelt, ist na­tur­ge­mäß zum Schei­tern ver­ur­teilt.

Hät­ten wir aber aus der Ge­schich­te ge­lernt, so wüß­ten wir, daß Ra­di­ka­li­sie­rung sich bis­her im­mer als Ein­bahn­stra­ße er­wie­sen hat, bei der Leu­te, die beim Fah­ren in der fal­schen Rich­tung er­wischt wor­den sind, zu­meist mit ka­pi­ta­len Stra­fen be­legt wur­den. Wäh­rend näm­lich der er­wähn­te Ein­heits­brei of­fen für al­les mög­li­che ist, von je­dem, der ge­nü­gend Kräf­te auf sich ver­ei­nen kann, be­ein­flußt wer­den kann, läßt die ra­di­ka­le Po­si­tion, so sie ein­mal er­reicht ist, kei­ne Ge­gen­mei­nung, kei­ne wei­te­re Ein­fluß­nah­me mehr zu; ihr wie­der zu ent­rin­nen er­for­dert, wie in der Ver­gan­gen­heit zur Ge­nü­ge be­wie­sen wor­den ist, gro­ße Kraft­an­stren­gung un­ter meist ge­wal­ti­gen Op­fern und Ver­lu­sten.


Der wahre „Goldene Weg der Mitte”

Eine ge­schick­te Po­li­tik, die eine Wei­ter­ent­wick­lung der Ge­sell­schaft zum Ziel hat, wird sich da­her be­mü­hen, den er­wähn­ten Pen­del­schlag einer­seits nicht zum Still­stand kom­men, ihn aber an­de­rer­seits nicht zu hef­tig wer­den zu las­sen. Da­zu be­darf es frei­lich einer ge­wis­sen Kon­ti­nui­tät in der Po­li­tik, die wie­de­rum nur auf der Ba­sis all­ge­mein an­er­kann­ter Grund­wer­te exi­stie­ren kann, die als Maß­stab für die not­wen­di­ge, re­gel­mä­ßig durch­zu­füh­ren­de Stand­ort­be­stim­mung an­zu­se­hen sind.

Der Weg der Ein­bahn­stra­ße, auf dem sich die ge­sell­schaft­li­che Rea­li­tät in Öster­reich zur Zeit be­fin­det, ist her­vor­ge­ru­fen wor­den durch die Schwä­che der re­gie­ren­den Par­tei­en, durch die Wer­te­lo­sig­keit ih­rer Pro­gram­me, durch die Ideen­lo­sig­keit ih­rer han­deln­den Per­so­nen — und nicht durch den viel­ge­schmäh­ten Po­pu­lis­mus des Herrn Dr. Hai­der, der mit sei­nen An­hän­gern durch­aus recht hat mit der Mei­nung, daß eine sol­che „De­mo­kra­tie” — in ih­rer Phase der Stag­na­tion und Re­ak­tion — kei­ne Exi­stenz­be­rech­ti­gung hät­te. In der Tat: Eine Re­gie­rungs­form nur we­gen ih­res gut­klin­gen­den Na­mens auf­recht­zu­er­hal­ten, ist schlicht als Kräf­te­ver­geu­dung zu be­zeich­nen.

Der Feh­ler liegt je­doch nicht in der De­mo­kra­tie an sich, son­dern in den Men­schen, die den Be­zug zu ihr ver­lo­ren ha­ben. Die Lö­sung des Pro­blems ist da­her nicht, die De­mo­kra­tie ab­zu­schaf­fen, son­dern viel­mehr, ihr eine neue, fun­dier­te­re Ba­sis zu ge­ben, sie zu „re­pa­rie­ren”, das heißt: wei­ter­zu­ent­wickeln, den je­wei­li­gen Not­wen­dig­kei­ten kon­ti­nu­ier­lich an­zu­pas­sen. Ganz si­cher ist es falsch, auf die Re­ak­tion den Weg der Ein­bahn­stra­ße, die Re­vo­lu­tion fol­gen zu las­sen und so Ra­di­ka­lis­men al­ler Art zu stär­ken. Die ent­spre­chen­den fahr­läs­si­gen und ver­ant­wor­tungs­lo­sen Ver­säum­nis­se der öster­rei­chi­schen Po­li­ti­ker in die­ser Hin­sicht sind üb­ri­gens auch Ver­säum­nis­se der öster­rei­chi­schen Be­völ­ke­rung, die die­sen Po­li­ti­kern nicht recht­zei­tig in ih­rer Träg­heit Ein­halt ge­bo­ten hat. Die Ver­ant­wor­tung ab­zu­schie­ben ist in einer De­mo­kra­tie bil­lig, aber nicht recht.


Standortbestimmung: Der Wert der Werte

Um aber die De­mo­kra­tie wie­der auf den rich­ti­gen Weg brin­gen zu kön­nen, be­darf es einer­seits der Stand­ort­be­stim­mung, an­de­rer­seits aber auch ge­wis­ser „Weg­wei­ser”, sonst er­schöpft sich je­de Re­form im be­kann­ten Qual­tin­ger-Satz „Ich weiß zwar nicht, wo­hin ich fahr' — da­für bin ich frü­her dort.” Wer sich sei­ner Wur­zeln be­raubt, wer nicht in der La­ge und wil­lens ist, in die Ver­gan­gen­heit zu blicken, um die Ge­gen­wart er­ken­nen zu kön­nen, wird die Zu­kunft nicht ge­stal­ten kön­nen. Wer sich um Na­tur­recht nicht küm­mern mag, wer glaubt, daß Be­grif­fe wie Dis­zi­plin und Treue, Ver­ant­wor­tung, Frei­heit und Wür­de durch Pa­ra­gra­phen und Le­gal­de­fi­ni­tio­nen er­setzt wer­den kön­nen, wem For­ma­lis­men wich­ti­ger sind als In­hal­te, re­det der Los­lö­sung des Ein­zel­nen von der Ge­sell­schaft, vom Staat das Wort und öff­net so Tür und Tor für den ge­sell­schaft­li­chen Zer­fall, für Ego­is­mus und Na­tio­na­lis­mus, für den Rück­schritt „back to the roots” an­stel­le der Ent­wick­lung hin zu ge­sell­schaft­li­cher Har­mo­nie. Bleibt noch fest­zu­stel­len, daß nicht Me­dio­kri­tät eine De­mo­kra­tie be­lebt, son­dern der „gu­te Kom­pro­miß”, der al­ler­dings einer­seits To­le­ranz, an­de­rer­seits aber die in­ten­si­ve Be­schäf­ti­gung mit mög­lichst vie­len Mei­nun­gen — auch ra­di­ka­len! — vor­aus­setzt.


Freiheit schreibt auf Eure Fahnen ...

... aber ver­geßt da­bei nicht, daß Frei­heit — eben­so wie die Ge­sell­schaft — kein Selbst­zweck ist! Der Hin­weis auf das bekann­te Wort, daß die Frei­heit des Einen ih­re Gren­zen an der Frei­heit des An­de­ren fin­det, mag als Selbst­ver­ständ­lich­keit be­lä­chelt wer­den; er ist aber wich­tig. Eben­so wich­tig ist aber auch der Hin­weis, daß eine funk­tio­nie­ren­de De­mo­kra­tie von der Frei­heit des Ein­zel­nen ab­hän­gig ist, um­ge­kehrt aber die Frei­heit des Ein­zel­nen nur von einer (zu­min­dest im Grund­prin­zip funk­tio­nie­ren­den) De­mo­kra­tie ge­währ­lei­stet wer­den kann.

All­ge­mei­ne Frei­heit — ganz be­son­ders je­ne des Den­kens! — und die Er­zie­hung zu ih­rem ver­ant­wor­tungs­vol­len Ge­brauch sind da­her Grund­vor­aus­set­zun­gen für eine men­schen­wür­di­ge Form mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens, für die De­mo­kra­tie. Nur dem­je­ni­gen, dem er­laubt und der fä­hig ist, in al­le Rich­tun­gen ra­di­kal zu den­ken, wird es ge­lin­gen, den „Gol­de­nen Weg der Mit­te”, den Weg der To­le­ranz, des Aus­gleichs, zu fin­den.

Wir Cou­leur­stu­den­ten ha­ben je­den Grund, da­rüber in­ten­siv nach­zu­den­ken, für die Frei­heit ein­zu­tre­ten und sorg­sam mit ihr um­zu­ge­hen. Wer näm­lich zur Eli­te einer De­mo­kra­tie ge­hö­ren will, muß auch die ent­spre­chen­de Ver­ant­wor­tung über­neh­men ...


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