Die Sechziger hatten wirklich DIE Lösung für all unsere Probleme! Ein paar Blümchen ins Haar, ein lauter Ruf nach Freiheit, wie immer sie auch beschaffen sei, und schon reichen einander alle Menschen die Hand und lieben einander. Wirf deine Komplexe, Hemmungen und Neurosen und den ganzen autoritären Kram, den dir deine Eltern und Lehrer aufgezwungen haben, über Bord, genieße den Augenblick, schon morgen kannst du tot sein; Woodstock wartet auf dich: give me an F...!
„Unter den Talaren — stinkt der Mief von tausend Jahren!”
rief man an den Universitäten in Deutschland und Österreich; höchste Zeit, die reaktionären Verkrustungen aufzubrechen, die bestehenden Strukturen zu zerschlagen, der Revolution der Liebe und Gewaltfreiheit zum Durchbruch zu verhelfen, und zwar mit allen Mitteln (natürlich auch jenem der Gewalt: Der Zweck heiligt die Mittel!). Und im übrigen brauchen wir auch keine Atomkraftwerke, denn unser Strom kommt aus der Steckdose.
Blauäugig folgte eine ganze Generation den meist nicht ganz so blauäugigen neuen Führern. Das geschichtliche Stimmungspendel war von reaktionär auf revolutionär geschwungen — eine Bewegung, die so stürmisch schien, daß sie vielen bereits als Rechtfertigung für sich selbst genügte. Verändern wir schnell die Welt (bevor das andere für uns tun)!
Die Folgen
Auflösungserscheinungen der westlichen Gesellschaft wurden zwar sichtbar, in ihrer Tragweite aber noch immer stark unterschätzt. Im Gegenteil: Gesellschaft wurde allgemein als Zwang empfunden, der möglichst abgeschüttelt werden muß. Kaum jemand dachte aber darüber nach, daß es etwa größtmögliche Freiheit für den Einzelmenschen nur dann geben kann, wenn er entweder völlig alleine, ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen lebt, oder aber, daß die Gemeinschaft, in der er lebt, ihm diese Freiheit garantiert. Und schon gar nicht wurde darüber nachgedacht, daß man auch an dieser Gemeinschaft teilnehmen, das heißt etwas beitragen, sie weiterentwickeln muß, anstatt sie abzuschaffen, damit diese Garantie möglich wird.
Erst lange nachdem diese Bewegung ihre stürmische Phase hinter sich gebracht, ihren Schwung weitgehend eingebüßt hatte, machte sich eine gewisse Ernüchterung breit. Die Erneuerungen um jeden Preis, die revolutionäre Anpassung der Bedürfnisse am jeweiligen Moment
hatten, so stellte sich heraus, auch negative Folgen — zu erwähnen wären hier beispielsweise die vermehrte Umweltzerstörung (etwa durch die erwähnten Atomkraftwerke, die wir vielleicht wirklich nicht unbedingt brauchen?) oder ein vermehrtes Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen aller Art.
Im gesellschaftsrelevanten rechtlichen Bereich hat kleinlicher Positivismus — vor allem in Österreich — etwa Grund– und Freiheitsrechte immer exakter zu definieren versucht, sie dadurch aus ihrem naturrechtlichen Gesamtzusammenhang gerissen und so zur simplen Rechtsnorm gemacht. Blauäugig hat man geglaubt: je genauer die Definition, desto besser das Recht. Als Konsequenz dieser ganzen Entwicklung muß man feststellen, daß der Bürger nicht mehr frei ist, weil er es sein soll, schon gar nicht, weil er es sein will, sondern deswegen und nur insoweit, wie es „das Recht” und somit der Gesetzgeber zuläßt. Und das kann ein bißchen mehr, aber auch ein bißchen weniger sein — und was ein bißchen ist, bestimmt natürlich auch der Gesetzgeber. Der kann sich natürlich auch verändern, und ein Recht kann zum obsolet gewordenen Selbstzweck, zur Augenauswischerei degradiert werden ...
Liberalismus als Ausweg?
Nach der Reaktion, die nicht befriedigend war, weil sie statt Werte nur mehr leere Hüllen anzubieten hatte, und der Revolution, die Werte nicht durch Aktionismus ersetzen konnte, weil sie Werte gar nicht kannte, suchte man also — vor allem in der Politik — nach einem Weg, der für möglichst viele Mitglieder der zu regierenden Gesellschaft auf längere Sicht akzeptabel sein könnte: den Weg der Mitte.
Dieser Weg der Mitte sollte von jedem ein bißchen haben: ein paar Blümchen im Haar — aber nicht zu viele, ein paar Parlamentarier/Innen in Kartoffelsackmode, Pullover oder Mascherl am Kragen — aber nicht zu viele, ein paar Alibi–Großmäuler in der Politik — aber nicht zu viele, in paar Alkoholiker und Obdachlose in der Stadt — aber nicht zu viele, ein paar Ausländer im Land — aber (natürlich!) nicht zu viele ...
Auch der Liberalismus kommt ohne Werte aus; er ist ein bißchen revolutionär, denn er orientiert sich am momentanen Bedürfnis; er ist auch ein bißchen reaktionär, denn die Veränderungen treten — besonders dann, wenn sie dringend notwendig wären — erst mit reichlicher Verspätung — wenn überhaupt — ein.
Wir lernen aus der Geschichte ...
... daß wir nichts aus der Geschichte lernen. Hätten wir nämlich etwas gelernt, so hätten wir gewußt, daß jede Idee, jede Strömung automatisch eine Gegen–Idee, eine Gegen–Strömung hervorruft. Und die Gegen–Strömung einer Heute-so-morgen-anders–Politik mit gelegentlichem, aber immer zeitverzögertem Erfolgseintritt, dafür aber starken Abnützungserscheinungen, ist der laute Ruf „back to the roots!”: zurück zu den Ideologien links und rechts von der Mitte mit ihren klaren, einfachen, so einleuchtend-verführerischen Schlagworten. Je radikaler die Abgrenzung vom zähen Einheitsbrei, den die Mode der Mitte darstellt, desto besser, bis diese Radikalität genug gewuchert hat, um durch eine breite Anhängerschaft salonfähig und damit selbst zur Mode zu werden.
So weit, so gut. Das Pendel muß sich bewegen, denn ohne Bewegung gibt es keine Entwicklung, und eine Gesellschaft, die sich nicht entwickelt, ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt.
Hätten wir aber aus der Geschichte gelernt, so wüßten wir, daß Radikalisierung sich bisher immer als Einbahnstraße erwiesen hat, bei der Leute, die beim Fahren in der falschen Richtung erwischt worden sind, zumeist mit kapitalen Strafen belegt wurden. Während nämlich der erwähnte Einheitsbrei offen für alles mögliche ist, von jedem, der genügend Kräfte auf sich vereinen kann, beeinflußt werden kann, läßt die radikale Position, so sie einmal erreicht ist, keine Gegenmeinung, keine weitere Einflußnahme mehr zu; ihr wieder zu entrinnen erfordert, wie in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen worden ist, große Kraftanstrengung unter meist gewaltigen Opfern und Verlusten.
Der wahre „Goldene Weg der Mitte”
Eine geschickte Politik, die eine Weiterentwicklung der Gesellschaft zum Ziel hat, wird sich daher bemühen, den erwähnten Pendelschlag einerseits nicht zum Stillstand kommen, ihn aber andererseits nicht zu heftig werden zu lassen. Dazu bedarf es freilich einer gewissen Kontinuität in der Politik, die wiederum nur auf der Basis allgemein anerkannter Grundwerte existieren kann, die als Maßstab für die notwendige, regelmäßig durchzuführende Standortbestimmung anzusehen sind.
Der Weg der Einbahnstraße, auf dem sich die gesellschaftliche Realität in Österreich zur Zeit befindet, ist hervorgerufen worden durch die Schwäche der regierenden Parteien, durch die Wertelosigkeit ihrer Programme, durch die Ideenlosigkeit ihrer handelnden Personen — und nicht durch den vielgeschmähten Populismus des Herrn Dr. Haider, der mit seinen Anhängern durchaus recht hat mit der Meinung, daß eine solche „Demokratie” — in ihrer Phase der Stagnation und Reaktion — keine Existenzberechtigung hätte. In der Tat: Eine Regierungsform nur wegen ihres gutklingenden Namens aufrechtzuerhalten, ist schlicht als Kräftevergeudung zu bezeichnen.
Der Fehler liegt jedoch nicht in der Demokratie an sich, sondern in den Menschen, die den Bezug zu ihr verloren haben. Die Lösung des Problems ist daher nicht, die Demokratie abzuschaffen, sondern vielmehr, ihr eine neue, fundiertere Basis zu geben, sie zu „reparieren”, das heißt: weiterzuentwickeln, den jeweiligen Notwendigkeiten kontinuierlich anzupassen. Ganz sicher ist es falsch, auf die Reaktion den Weg der Einbahnstraße, die Revolution folgen zu lassen und so Radikalismen aller Art zu stärken. Die entsprechenden fahrlässigen und verantwortungslosen Versäumnisse der österreichischen Politiker in dieser Hinsicht sind übrigens auch Versäumnisse der österreichischen Bevölkerung, die diesen Politikern nicht rechtzeitig in ihrer Trägheit Einhalt geboten hat. Die Verantwortung abzuschieben ist in einer Demokratie billig, aber nicht recht.
Standortbestimmung: Der Wert der Werte
Um aber die Demokratie wieder auf den richtigen Weg bringen zu können, bedarf es einerseits der Standortbestimmung, andererseits aber auch gewisser „Wegweiser”, sonst erschöpft sich jede Reform im bekannten Qualtinger-Satz „Ich weiß zwar nicht, wohin ich fahr' — dafür bin ich früher dort.” Wer sich seiner Wurzeln beraubt, wer nicht in der Lage und willens ist, in die Vergangenheit zu blicken, um die Gegenwart erkennen zu können, wird die Zukunft nicht gestalten können. Wer sich um Naturrecht nicht kümmern mag, wer glaubt, daß Begriffe wie Disziplin und Treue, Verantwortung, Freiheit und Würde durch Paragraphen und Legaldefinitionen ersetzt werden können, wem Formalismen wichtiger sind als Inhalte, redet der Loslösung des Einzelnen von der Gesellschaft, vom Staat das Wort und öffnet so Tür und Tor für den gesellschaftlichen Zerfall, für Egoismus und Nationalismus, für den Rückschritt „back to the roots” anstelle der Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Harmonie. Bleibt noch festzustellen, daß nicht Mediokrität eine Demokratie belebt, sondern der „gute Kompromiß”, der allerdings einerseits Toleranz, andererseits aber die intensive Beschäftigung mit möglichst vielen Meinungen — auch radikalen! — voraussetzt.
Freiheit schreibt auf Eure Fahnen ...
... aber vergeßt dabei nicht, daß Freiheit — ebenso wie die Gesellschaft — kein Selbstzweck ist! Der Hinweis auf das bekannte Wort, daß die Freiheit des Einen ihre Grenzen an der Freiheit des Anderen findet, mag als Selbstverständlichkeit belächelt werden; er ist aber wichtig. Ebenso wichtig ist aber auch der Hinweis, daß eine funktionierende Demokratie von der Freiheit des Einzelnen abhängig ist, umgekehrt aber die Freiheit des Einzelnen nur von einer (zumindest im Grundprinzip funktionierenden) Demokratie gewährleistet werden kann.
Allgemeine Freiheit — ganz besonders jene des Denkens! — und die Erziehung zu ihrem verantwortungsvollen Gebrauch sind daher Grundvoraussetzungen für eine menschenwürdige Form menschlichen Zusammenlebens, für die Demokratie. Nur demjenigen, dem erlaubt und der fähig ist, in alle Richtungen radikal zu denken, wird es gelingen, den „Goldenen Weg der Mitte”, den Weg der Toleranz, des Ausgleichs, zu finden.
Wir Couleurstudenten haben jeden Grund, darüber intensiv nachzudenken, für die Freiheit einzutreten und sorgsam mit ihr umzugehen. Wer nämlich zur Elite einer Demokratie gehören will, muß auch die entsprechende Verantwortung übernehmen ...