Die gar nicht fröhliche Fortsetzung eines Märchens
Carolinas Nachrichten Nr. 3/1994, S. 7 f
Die Republik der Alpenzwerge war nicht immer eine Republik; zu Anfang dieses Jahrhunderts standen noch würdige Monarchen an der Spitze dieses Landes, und nicht nur die Ignoranz des Pöbels war daran schuld, daß dem heute nicht mehr so ist.
Graukappelzwerg, der in diesem Land gelebt hat, ist inzwischen gestorben. Ganz ruhig und friedlich war sein irdisch Zwergenende gewesen; aber in jenen, die ihn gekannt haben und zu denen er gesprochen hat — so wie das bei Grünkappelzwerg und A–Punkt der Fall ist —, wird er wohl ewig weiterleben. Rotkappelzwerg hat den Grünkappelzwerg wieder getroffen. Ein richtiger Kappelzwerg ist aus ihm geworden, gar nicht mehr grün hinter den Ohren. Aber ach und zwergenweh, es ging ihm gar nicht gut, er machte ein gar trauriges Gesicht. Da schenkte ihm der Rotkappelzwerg ein Bier ein und fragte, ob er ihm vielleicht helfen könne. „Kannst Du Dich noch daran erinnern, was uns der Graukappelzwerg gesagt hat, als er zum letzten Mal mit uns zusammen war?” fragte Kappelzwerg. „Er hat recht gehabt, aber ich hätte ihm doch besser zuhören und mehr nachdenken sollen.” Und so begann er zu erzählen. „Vor ein paar Monaten bin ich durch die Stadt gegangen. Dunkel war es und kalt, aber es hat mir Freude gemacht, durch die winterlich verschneiten Straßen zu gehen. Ganz in Gedanken war ich versunken, als mir ein Auto entgegenkam; auf dem Beifahrersitz saß ein Zwerg, den ich gar nicht kannte, über den ich gar nichts wußte. Ich konnte nicht einmal erkennen, ob es ein Zwerg oder eine Zwergin war, es war zu dunkel und das Auto fuhr viel zu schnell; wahrscheinlich werde ich nie erfahren, wer er war. Und doch — bis heute weiß ich nicht, warum das passiert ist — hat mich dieser Zwerg gezwungen nachzudenken, eine Entscheidung zu treffen zwischen Gefühl und Intellekt, zwischen inniger Zwergenliebe (ja, auch der Graukappelzwerg hätte das so genannt!) und dem — bisher offenbar verdrängten — Wissen um ihre Unerfüllbarkeit. Lange mußte ich nachdenken, immer die Worte des Graukappelzwergs in Erinnerung. Ich geriet in eine tiefe Krise, bis ich eines Abends zu einer Entscheidung kam. Es war eine typisch zwergenländische Lösung, ein Kompromiß, eine schaumgebremste Kombination aus Zwergenherz und grauen Zellen — Respekt genannt. Glücklich und zufrieden war ich mit diesem Ergebnis; es gab mir Hoffnung, daß eines Tages das Gefühl siegen könnte. Noch in der gleichen Nacht hatte ich einen Traum, dessen Inhalt mir am Morgen nur noch soweit in Erinnerung war, als ich den Graukappelzwerg gesehen hatte, mit erhobenem Finger, den Kopf schüttelnd.” Ein Blauzwerg tauchte plötzlich bei uns auf. „Kummer mit den Deinen? Trink noch einen!” lallte er. Rotkappelzwerg wies ihm den Weg, und es dauerte eine Weile, bevor sein Gegenüber mit dem Erzählen fortfuhr. „So verging die Zeit, der gefundene Kompromiß schien sich zu bewähren, die Krise war überwunden, und ich begann zu träumen und mir auszumalen, wie schön es doch wäre, wenn sich meine Hoffnung erfüllen sollte. Gestern aber hat mich die Realität eingeholt. Mit einem Schlag sind meine Zwergenträume zerbrochen, meine Hoffnungen vernichtet. Ich habe mich — wohl mit Erfolg — bemüht, mir nichts anmerken zu lassen von meinem Elend. Erst als ich wieder allein war, unternahm ich — zum ersten Mal in meinem Leben — den sinnlosen Versuch, mich zu betrinken; aber je mehr ich trank, desto nüchterner wurde ich, desto deutlicher kam mir zu Bewußtsein, wie sich nun Gefühl und Intellekt gemeinsam gar fürchterlich an mir rächen, daß ich nicht einem von ihnen den Vorzug gegeben und damit eine wahre Entscheidung getroffen habe.” Rotkappelzwerg drückte das Bier, das der Kappelzwerg bis jetzt nicht angerührt hatte und dessen Blume schon ganz verrostet war, einem weiteren Blauzwerg, der gerade zur Tür hereinschaute, in die Hand, um ihn zum Gehen zu bewegen; der war's zufrieden und verschwand auch gleich wieder. Tränen hatte er in den Augen, der Kappelzwerg, und seine Hände zitterten. „Der Kompromiß, über den ich so froh war, ist mir nun auf Dauer aufgezwungen, es gibt keine Gelegenheit mehr, ihn wieder aufzuheben. Ich habe mich der Realität mit ihren Problemen und Herausforderungen nicht wirklich gestellt, sondern versucht, sie und mich zu beschwichtigen und dadurch zu betrügen. So habe ich nicht nur die Freiheit der Entscheidung, die jetzt für mich gefällt worden ist, begraben; ich habe mich auch der Möglichkeit beraubt, entweder im Gefühl oder in meinem Wissen Trost zu finden. Ich wünschte, der Graukappelzwerg wäre noch am Leben und könnte mir helfen!” Das wünschte sich der Rotkappelzwerg auch sehr, denn er sah sich hilflos dem Schmerz seines Freundes gegenüber, fand keine Worte, so nahe er sich ihm auch fühlte. Da die Zahl der Blauzwerge immer größer und unerträglicher wurde, verließen sie den ungastlich werdenden Ort. Die ganze Nacht, bis früh in den Morgen, waren die beiden zusammen, doch der Kappelzwerg konnte keinen Trost finden. Rotkappelzwerg aber nahm von dieser Begegnung die Erkenntnis mit, daß jeder Kompromiß, so gut er einem auch erscheinen mag, eben nur ein Kompromiß, eine halbe Lösung ist, die immer nur kurzfristig als Erfolg gesehen werden kann. Ein Kompromiß ist niemals ein Ende, sondern nur ein Mittel, um etwas Zeit zu gewinnen für die Suche nach einem guten Ende. Daß es wenigstens der Zeit gelingt, den Schmerz des Kappelzwerges zu lindern und seine Wunden zu heilen, hofft und wünscht ihm Der Rotkappelzwerg A. |
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