Grünkappelzwerg & Graukappelzwerg

Wie immer bloß ein Märchen

Carolinas Nachrichten Nr. 5/1993, S. 2 f


Die Re­pu­blik der Al­pen­zwer­ge war nicht im­mer eine Re­pu­blik; je­doch kann die Tat­sa­che, daß es die wür­di­gen Mo­nar­chen, die zu An­fang die­ses Jahr­hun­derts noch an der Spit­ze die­ses Lan­des stan­den, in die­ser Form heu­te nicht mehr gibt, die Al­pen­zwer­ge nicht da­von ab­hal­ten, über we­sent­li­che Din­ge ih­res Le­bens nach­zu­den­ken.

Rot­kap­pel­zwerg al­so saß jüngst ne­ben einem sehr jun­gen Grün­kap­pel­zwerg — einem Zwer­gen­fuchs! — und einem wei­sen, Re­spekt ein­flö­ßen­den, aber gü­ti­gen Grau­kap­pel­zwerg, und al­le tran­ken ge­müt­lich ein Bier­chen, wäh­rend drau­ßen vor der Bu­de der Schnee­sturm gar graus­lich tob­te.

Ein leicht be­kneip­ter Blau­kap­pel­zwerg be­trat den Raum mit sei­nem Zwer­gen­mäd­chen am Arm, das gar nett an­zu­se­hen war. Sie herz­ten und kü­ßten ein­an­der, wie das nach kap­pel­zwer­gi­schen Re­geln gar nicht schick­lich war; Grau­kap­pel­zwerg räus­per­te sich ver­nehm­lich, und weil er, wie ge­sagt, ein re­spek­tier­ter äl­te­rer Zwerg war, ver­ließ das Paar den Raum un­ter Ent­schul­di­gungs­ge­mur­mel.

Grün­kap­pel­zwerg aber seufz­te: „Muß Lie­be schön sein ...”

Grau­kap­pel­zwerg run­zel­te die Stirn und sprach: „Mit Lie­be hat das gar nichts zu tun. Die bei­den sind nur ver­liebt. Und das so öf­fent­lich zu zei­gen schickt sich für einen Kap­pel­zwerg gar nicht!”

Grün­kap­pel­zwerg woll­te so­fort eif­rig wi­der­spre­chen. Ein Blick des Äl­te­ren je­doch ge­nüg­te, um ihn gleich zum Ver­stum­men zu brin­gen.

Und so hub der Grau­kap­pel­zwerg in sei­ner Weis­heit und Gü­te an, Grün­kap­pel­zwerg über die Unter­schie­de zwi­schen Lie­be und Ver­liebt­heit auf­zu­klä­ren:

„Ver­liebt­heit”, so mein­te er, „ist ge­rich­tet auf eine oder meh­re­re Eigen­schaf­ten, die ein Mensch be­sitzt. Das kann wohl al­les Mög­li­che sein: blon­de Haa­re, blaue Augen, ein be­stimm­ter Cha­rak­ter­zug, ein apart ge­form­ter Kör­per, ge­wis­se Schwä­chen des an­de­ren, eine an­ge­neh­me Stim­me oder gar die Form und Stel­lung der gro­ßen Ze­he am lin­ken Fuß.

Lie­be hin­ge­gen um­faßt den Men­schen in sei­ner Ge­samt­heit; sie re­spek­tiert und ak­zep­tiert ihn so, wie er ge­ra­de ist. Sie hat Ge­duld mit ihm.

Wäh­rend die Ver­liebt­heit wach­sen und wie­der schwin­den kann, mit dem Weg­fall der Eigen­schaft, die ih­re Ur­sa­che ist, meist ihr En­de fin­det, ist Lie­be ste­tig. Sie exi­stiert ein­fach; sie braucht nicht wach­sen, sie kann nicht ster­ben. Es gibt kei­ne ‚gro­ße‘ oder ‚klei­ne‘ Lie­be. Der Weg­fall einer oder meh­re­rer Eigen­schaf­ten — wie et­wa die Ge­sund­heit, eine Ver­än­de­rung der Haar­far­be, die kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit — hat auf sie kei­nen Ein­fluß.”

„Wie aber,” frag­te Grün­kap­pel­zwerg, „wenn der eine die Ge­füh­le des an­de­ren nicht er­wi­dert?”

„Paß bes­ser auf!” sag­te der al­te Zwerg ein we­nig un­wirsch. „Das ist doch ganz of­fen­sicht­lich. Du hast es doch ge­ra­de ge­se­hen, wie sehr Ver­liebt­heit Ver­liebt­heit braucht. Sie hängt ab von der Ver­liebt­heit des an­de­ren; ist die nicht vor­han­den, stirbt sie schnell. Zur Ab­si­che­rung wird sie öf­fent­lich zur Schau ge­stellt: in­ein­an­der Ver­lieb­te sind schon von wei­tem an ih­rem Ver­hal­ten zu er­ken­nen.

Die Lie­be aber ist still, für Außen­ste­hen­de sel­ten auf den er­sten Blick zu er­ken­nen, manch­mal sogar heim­lich. Es mag für einen Lie­ben­den man­chen Grund ge­ben, sei­ne Lie­be zu ver­schwei­gen, hat er doch im­mer das Glück des Ge­lieb­ten vor Augen. Ob das Schwei­gen je­doch rich­tig ist, kann nie­mand sa­gen, nicht ein­mal er selbst ist in der La­ge, das zu be­ur­tei­len.

Da die Lie­be den Ge­lieb­ten — auch das habe ich Dir schon ge­sagt! — re­spek­tiert, wie er ist, kann sie auch über­le­ben, wenn sie nicht auf Ge­gen­lie­be stößt, ja selbst dann, wenn sie zu­rück­ge­wie­sen wird.”

Der wei­se Grau­kap­pel­zwerg nahm sein Glas und trank. Dann zog er sein Pfeif­chen aus dem Fut­te­ral und stopf­te es mei­ster­haft. Man sah dem Fuch­sen­zwerg an, daß er ger­ne et­was ge­fragt hät­te; er wag­te es aber nicht.

Lang­sam brei­te­te sich der an­ge­neh­me Duft des Pfei­fen­ta­baks im Raum aus. „Lie­be”, fuhr der Grau­kap­pel­zwerg fort, „Lie­be kann rei­fen, aber nur, wenn sie auf die Lie­be des Ge­lieb­ten stößt. Das Wort ‚reifen‘ sagt es schon aus: Lie­be hat viel Zeit. Im Lau­fe einer lan­gen Zeit reift sie je­weils an der Lie­be des an­de­ren.

Sie kann von die­sem aber auch er­mor­det wer­den: durch Ver­rat. Einer ge­nügt schon: die Wun­den, die er hin­ter­läßt, kön­nen nicht mehr ge­heilt wer­den. Er hat der Lie­be die Exi­stenz ge­nom­men.

Ver­liebt­heit wacht eifer­süch­tig auf den Er­halt des sta­tus quo, ih­re Öf­fent­lich­keit hilft ihr da­bei. Sie lebt für den Augen­blick, sie orien­tiert sich an ihm. Sie ist ab­hän­gig von die­sem Augen­blick. Ein ge­gen­sei­ti­ges Rei­fen ist hier aus­ge­schlos­sen. Nach eini­ger Zeit folgt die Er­nüch­te­rung, da­mit ihr En­de.

Aus­ge­leb­te Ver­liebt­heit braucht kör­per­li­che Nä­he; zu­neh­mend ver­la­gert sie sich auf Se­xua­li­tät. Sie flieht vor der Lie­be in den Trieb und die Su­che nach des­sen Be­frie­di­gung. Da­mit we­nig­stens die­ses Kind einen Na­men hat, nennt sie das ‚Lie­be ma­chen‘. Sie gibt sich re­gel­mä­ßig da­mit zu­frie­den und ist gar nicht be­müht, die­ses Pa­ra­do­xon auf­zu­lö­sen. Sie hat Angst.

Mit dem mög­li­chen Weg­fall der Eigen­schaf­ten, die sie be­din­gen, rech­net die Ver­liebt­heit im­mer. Sie hat da­her gro­ße Furcht vor der Lie­be und der Bin­dung, die sie in sich birgt, denn sie weiß um ih­re Kurz­le­big­keit, auch dann, wenn sie da­mit rech­nen kann, jah­re­lang an­zu­dau­ern. Sie braucht Ver­hü­tungs­mit­tel und de­ren Si­cher­heit; im Fal­le ih­res Ver­sa­gens zer­bricht die Ver­liebt­heit an der De­mas­kie­rung ih­rer Ober­fläch­lich­keit. Die Bin­dung durch eine un­ge­woll­te Schwan­ger­schaft ist eben­so ein Alp­traum für Ver­lieb­te wie die wahr­schein­li­che Nö­ti­gung zu spä­te­rer Pflicht­er­fül­lung, die müh­sam ist, da sie nicht auf Lie­be be­ruht.

Gegenseitige Liebe jedoch hat Vertrauen; sie kommt ohne derlei Hilfsmittel aus. Abgesehen davon, daß Sexualität nur eine ihrer vielen intimen Ausdrucksformen und damit der Begriff der ungewollten Schwangerschaft für sie völlig absurd ist, ist sie aufgrund ihrer Geduld, Güte und Stetigkeit ohne weiteres in der Lage, räumliche Entfernung zu überbrücken und längere Perioden der Enthaltsamkeit — eine Zeit der Zuwendung und Zärtlichkeit! — zu überdauern. Ihre Re­duk­tion auf Ver­liebt­heit oder gar nur Se­xua­li­tät ist un­mög­lich, ih­re Be­frie­di­gung aber fin­det sie im­mer: in der Lie­be des Ge­lieb­ten.”

Elf­mal schlug die Uhr. Die Pau­se war dem Grau­kap­pel­zwerg will­kom­men, das Re­den hat­te ihn an­ge­strengt. Er sah et­was mü­de aus. Nach einem Schluck Bier setz­te er fort:

„Man­che brau­chen viele Jah­re, um zu er­ken­nen, daß sie nur ver­liebt sind. Die Er­kennt­nis bringt dann meist das ra­sche En­de die­ses Zu­stan­des. Ein Trau­schein ist in die­sem Zu­sam­men­hang nicht hilf­reich: So we­nig ihn die Lie­be braucht, so we­nig nützt er der Ver­liebt­heit. Man­che ge­lan­gen nie zu die­ser Er­kennt­nis; bei ih­nen wird die Ver­liebt­heit im Lau­fe der Zeit durch Ge­wöh­nung er­setzt. Nur sehr sel­ten geht Ver­liebt­heit in Lie­be über, ih­re Ober­fläch­lich­keit und Ver­selb­stän­di­gung so­wie ih­re Ten­denz zur Ab­kap­se­lung in Hin­blick auf Ge­füh­le ma­chen dies so gut wie un­mög­lich.

Da­raus er­ge­ben sich viel­mehr die­je­ni­gen ‚ge­schei­ter­ten Be­zie­hun­gen‘, die die Sta­ti­stik des Frau­en­mi­ni­sters ‚auf­bes­sern‘. Frau Doh­nal aber hat ih­re Freu­de da­ran, denn sie ist ein Ver­tre­ter des So­zia­lis­mus, der Ideo­lo­gie des Has­ses, des Ge­gen­teils der Lie­be. Un­ter dem Man­tel der Selbst­ver­wirk­li­chung tut sie — ge­trie­ben von ih­rer eige­nen Fru­stra­tion, die sie auf an­de­re pro­ji­ziert — al­les zur För­de­rung der Ober­fläch­lich­keit, um die Lie­be und ih­re Bin­dun­gen zu be­kämp­fen.”

Sorg­fäl­tig be­gann Grau­kap­pel­zwerg, sein Pfeif­chen zu rei­ni­gen. Dann trank er den Rest sei­nes Bie­res aus, er­hob sich und sprach er­neut zum Grün­kap­pel­zwerg:

„Eige­ne Lie­be je­doch wirst Du so­fort er­ken­nen, im Augen­blick ih­rer erst­ma­li­gen Exi­stenz. Sie birgt Ru­he, Güte und Ge­bor­gen­heit in sich; sie ist wie eine Glut: viel wär­men­der, viel be­stän­di­ger als das Feu­er selbst, aber nach außen hin nicht so weit sicht­bar.

Viel­leicht wirst Du lan­ge da­rauf war­ten müs­sen, das zu er­le­ben; aber dann wirst Du Dich nicht von Ver­liebt­heit ab­len­ken las­sen, son­dern so­fort füh­len und wis­sen, wo­von ich ge­spro­chen ha­be. Mö­gest Du mich erst in die­sem Augen­blick ver­ges­sen.”

Er sah sei­nem Ge­gen­über ins Ge­sicht und lä­chel­te, denn der Grün­kap­pel­zwerg hat­te — wohl tief be­ein­druckt von die­sen Wor­ten — ganz ver­ges­sen, dem Grau­kap­pel­zwerg in den Man­tel zu hel­fen.

„In sei­ner Un­voll­kom­men­heit”, sag­te der Grau­kap­pel­zwerg zum Ab­schied, „sehnt sich der Mensch nach Un­end­lich­keit; sei­ne ein­zi­ge Mög­lich­keit, sie zu er­fah­ren, ist die Lie­ben.” Dann ver­ließ er das Heim der Kap­pel­zwer­ge.

Drau­ßen tob­te noch im­mer der Schnee­sturm.



Ob der ge­schätz­te Le­ser wohl ge­merkt hat, daß dies­mal die Ein­lei­tung des Mär­chens et­was an­ders war als sonst?

Ja, ja: Mär­chen muß man sehr ge­nau le­sen, wenn man sie wirk­lich ver­ste­hen will,

meint Euer Rotkappelzwerg A.


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