Der Rotkappelzwerg A–Punkt

Ein Märchen zum Fall des Eisernen Vorhangs

Carolinas Nachrichten Nr 1/1990 S. 8–10


Die Re­pu­blik der Al­pen­zwer­ge war nicht im­mer eine Re­pu­blik; zu An­fang die­ses Jahr­hun­derts stan­den noch wür­di­ge Mo­nar­chen an der Spit­ze die­ses Lan­des, und nicht nur die Ig­no­ranz des Pö­bels war da­ran schuld, daß dem heu­te nicht mehr so ist.

Im Land der Al­pen­zwer­ge gab und gibt es — und das weiß ja der ge­schätz­te Le­ser be­reits — Zwerg­mann­schaf­ten mit ih­ren Kap­pel­zwer­gen, von de­nen einer A–Punkt (also kurz: A.) heißt.

Eines schö­nen Zwer­gen­ta­ges be­schloß nun die­ser A. — der üb­ri­gens ein ganz nor­ma­ler Rot­kap­pel­zwerg war — einen Berg zu be­stei­gen. Es war ein recht ho­her Berg, und da A. eini­ge Zwer­gen­pfun­de zu­viel mit sich her­um­trug (er hat­te näm­lich in seinen De­li­ka­tes­sen­la­den na­mens Zwer­gen­bauch in­ve­stiert!), kam er doch ganz schön ins Schwit­zen. Und als er oben an­ge­langt war, zückte er sein Su­per–Zwer­gen–Spek­tral–Hyper–Fern­glas und be­gann, die an­de­ren Zwerg­lein, die sich am Fu­ße des Ber­ges be­fan­den, gründ­lich zu stu­die­ren.

Zu sei­ner Rech­ten sah er die Zwer­ge sei­nes eige­nen Stam­mes: die Al­pen­zwer­ge. Sie tru­gen al­le wei­ße Zwer­gen­män­tel­chen, auf de­nen so hüb­sche Wor­te wie „Frei­heit”, „De­mo­kra­tie” oder „Men­schen­rech­te” ge­schrie­ben stan­den, und al­le hat­ten sie gar ro­si­ge Zwer­gen­paus­bäck­chen und wa­ren ganz of­fen­sicht­lich gu­ter Zwer­gen­din­ge.

So­dann schwenk­te A. sein SZSH–Fern­glas nach links — und sah nichts außer viel brau­ner Erde: nackt, un­be­wohnt, trost­los. Erst als er sein SZSH–Fern­glas etwas hob und auf „Weit­blick” stell­te, konn­te er wie­der Zwerg­lein se­hen. Aber ach, die wa­ren ganz an­ders! Sie sa­hen al­le gleich aus, tru­gen al­le ro­te Män­te­lein, auf de­nen je­weils eine Zwer­gen­si­chel und ein Zwer­genham­mer zu erken­nen wa­ren.

Und ih­re Ge­sich­ter wa­ren al­le voll Kum­mer und Zwer­gen­gram.

Doch da! Was war das?! Und hier! Und dort! Fast an je­dem lin­ken Zwer­gen­ort!

Bei ge­naue­rem Hin­se­hen ent­deck­te un­ser Rot­kap­pel­zwerg un­ter man­chen ro­ten Män­te­lein einen weißen Schim­mer!

Und dann ge­scha­hen gar merk­wür­di­ge Din­ge!

Plötz­lich leg­te näm­lich ein Zwerg­lein sein ro­tes Män­te­lein ab und ver­brann­te es vor den Augen der an­de­ren Zwer­ge mit­samt der Zwer­gen­si­chel und mit­samt dem Zwer­gen­ham­mer. Zum Vor­schein kam je­doch ein weißes Män­te­lein, auf dem ganz klar und deut­lich das Wort „FREI­HEIT!” zu le­sen war.

Dann kam noch ein zwei­ter Rot­man­tel­zwerg dazu, der das glei­che tat; auf sei­nem weißen Män­te­lein jedoch stand ge­schrie­ben: „DE­MO­KRA­TIE!”.

Schließ­lich kam noch ein drit­ter Zwerg hin­zu; auf sei­nem wei­ßen Män­te­lein konnte man das Wort „MEN­SCHEN­RECH­TE!” er­ken­nen.

Die drei Zwer­ge reich­ten ein­an­der die Hän­de und fin­gen an zu sin­gen und zu tan­zen.

Und zum Er­stau­nen des in­ter­es­siert be­ob­ach­ten­den A. legten im­mer mehr Rot­man­tel­zwer­ge ih­re ro­ten Män­te­lein ab und ver­brann­ten sie, wie es die er­sten drei Zwer­ge ge­tan hat­ten, und im­mer mehr wei­ße Män­te­lein wa­ren zu se­hen.

Zu­erst noch zö­gernd, aber dann im­mer be­stimm­ter be­gan­nen sie sogar, auf dem Strei­fen nack­ter Er­de, der sie von der Re­pu­blik der Al­pen­zwer­ge trenn­te, Gras– und Blu­men­sa­men aus­zu­säen!

Je­ne Rot­man­tel­zwer­ge aber, bei de­nen vor­her kein wei­ßer Schim­mer un­ter ih­ren ro­ten Zwer­gen­män­te­lein zu se­hen ge­we­sen war, er­ho­ben ein bö­ses Zwer­gen­ge­mur­mel und Zwer­gen­ge­grü­bel und blick­ten gar fin­ster drein; das, was sich vor ih­ren ver­wöhn­ten Augen ab­spiel­te, be­deu­te­te näm­lich, daß ih­re Macht nach vier­zig lan­gen — und für sie durch­aus fet­ten — Zwer­gen­jah­ren ab­bröckel­te. Sie muß­ten er­ken­nen, daß auch ihr so gut funk­tio­nie­ren­des Sy­stem des Si­chel-und-Ham­mer–Zwer­gen-Ter­rors an der Un­zu­frie­den­heit der schon lange un­ter­drück­ten an­de­ren Zwer­ge zer­bre­chen kann.

Und man­che von ih­nen nah­men die Zwer­gen­si­cheln und Zwer­gen­häm­mer von ihren ro­ten Män­te­lein und be­gan­nen, da­mit in al­ler Zwer­gen­öf­fent­lich­keit gar graus­lich un­ter ih­ren Brü­dern zu wü­ten — so, wie sie es frü­her be­reits im­mer wie­der im Ge­hei­men ge­tan hat­ten. Aber es gab schon zu vie­le wei­ße Män­te­lein um sie her­um, und die Zwer­gen­wut war schon zu groß; so muß­ten sie nach kur­zer Zeit auf­ge­ben.

Und als A. wie­der auf den Grenz­strei­fen blick­te, ent­deck­te er be­reits eini­ge Gras­hal­me und Blü­me­lein, und im­mer mehr Weiß­man­tel­zwer­ge ka­men von drü­ben nach hü­ben und gin­gen von hü­ben nach drü­ben.

Die Al­pen­zwer­ge freu­ten sich na­tür­lich sehr, daß die Macht der bö­sen Si­chel-und-Ham­mer-Ter­ror–Zwer­ge — zu­min­dest so gut wie — ge­bro­chen war, und wa­ren ger­ne be­reit, den neu­en Weiß­man­tel­zwer­gen nach Kräf­ten zu hel­fen; wah­re Ber­ge von Zwer­gen­fut­ter, Zwer­gen­klei­dern und Zwer­gen­me­di­zin wur­den von ih­nen eif­rigst her­bei­ge­schleppt.

Unter den Rot­man­tel­zwer­gen aber, die noch üb­rig­ge­blie­ben wa­ren, brei­te­te sich die nack­te Zwer­gen­angst aus, denn sie be­fürch­te­ten, daß mit ih­nen ge­nau das ge­sche­hen wer­de, was sie über vier­zig lan­ge Zwer­gen­jah­re ih­ren Brü­dern an­ge­tan hat­ten. Und so lie­fen sie schnell zur näch­sten Far­ben­hand­lung, stah­len dort eimer­wei­se wei­ße Far­be und be­gan­nen, ih­re Män­te­lein da­mit ein­zu­strei­chen. Da aber die Far­be vor­her für ihr ein­fa­ches Zwer­gen­volk be­stimmt ge­we­sen war, hat­te sie kei­ne be­son­ders gu­te Qua­li­tät; al­les, was sie er­rei­chen konn­ten, war ein mehr oder min­der zar­tes Ro­sa, und sie muß­ten ent­decken, daß ih­re Tar­nung nicht son­der­lich gut war.

Doch weil sie un­be­dingt ih­re Macht wie­der­ge­win­nen woll­ten (und muß­ten, denn was soll­ten sie sonst an­de­res ma­chen?), fin­gen sie an zu be­grü­beln und zu be­mur­meln, was denn nun zu tun sei. Und schon nach kur­zer Zeit hat­ten sie eine Idee, die sie so­fort in die Tat um­setz­ten:

Vor al­ler Zwer­gen­welt be­kann­ten sie ih­re Sün­den, mach­ten gar reu­mü­ti­ge Ge­sich­ter und wa­ren sehr zer­knirscht. Sie mach­ten sich so­gar er­bötig, den Scha­den, den sie an­ge­rich­tet hat­ten, so gut wie ih­nen nur mög­lich wie­der gut­zu­ma­chen. Und als Zei­chen da­für, daß dies al­les ihr zwer­gen­mäßi­ger Ernst sei, began­nen sie, an ih­re Brü­der, an die Al­pen­zwer­ge und auch an al­le an­de­ren Be­woh­ner der Zwer­gen­welt frei­wil­lig und gra­tis Bril­len zu ver­tei­len, da­mit man auch ganz ge­nau se­hen kön­ne, wie sehr sie sich be­müh­ten.

Nur den ar­men A., der ein­sam auf sei­nem Berg saß und zu­sah, hat­ten sie ver­ges­sen, wo­rü­ber er recht be­trübt war. Zu ger­ne hät­te auch er ganz ge­nau ge­se­hen, wie die­se Wie­der­gut­ma­chung — an die er vor­her nicht be­son­ders ge­glaubt hat­te — aus­se­hen wür­de.

Dann aber fiel ihm et­was Merk­wür­di­ges auf: Die Glä­ser die­ser Bril­len — wa­ren ro­sa!

Ein un­heim­li­ches Ge­fühl be­schlich un­se­ren Rot­kap­pel­zwerg; wie ge­bannt starr­te er auf die Men­ge von Ro­sa– und Weiß­man­tel­zwer­gen, auf die Freu­den­sze­nen, auf die all­ge­mei­nen Ver­brü­de­run­gen und auf die all­ge­mei­ne Blind­heit auch sei­ner Al­pen­zwer­ge.

Sein Ent­set­zen stei­ger­te sich noch, als er hie und da wie­der klei­ne Zwer­gen­si­chel­chen und Zwer­gen­häm­mer­chen durch sein Fern­glas sah. End­lich riß er sich zu­sam­men, er rafft­e sich auf und fing zu schrei­en an, denn er woll­te na­tür­lich die Weiß­man­tel­zwer­ge war­nen! Aber die­se freu­ten sich viel zu sehr, außer­dem war der Berg auch viel zu hoch, und so konn­ten sie ihn nicht hö­ren.

In sei­ner Ver­zweif­lung warf er schließ­lich sein wert­vol­les Su­per–Zwer­gen–Spek­tral–Hy­per–Fern­glas den Berg hin­un­ter in der Hoff­nung, sich da­durch viel­leicht doch einem der Weiß­man­tel­zwer­ge be­merk­bar ma­chen zu kön­nen ...

Aber ach und zwer­gen­weh: Nur einem die­ser bö­sen ver­klei­de­ten Rot­man­tel­zwer­ge fiel im all­ge­mei­nen Freu­den­tau­mel der Auf­prall des Fern­gla­ses auf; so­fort alar­mier­te er sei­ne Zwer­gen­ge­nos­sen, die da­rauf­hin um­ge­hend mit ih­ren Zwer­gen­si­cheln und Zwer­gen­häm­mern ver­such­te, dem ar­men Rot­kap­pel­zwerg das Zwer­gen­licht aus­zu­bla­sen. Und so be­gan­nen sie, den Berg zu be­stei­gen, auf dem A. sich die See­le aus dem Leib schrie, mit bei­den Ar­men wild fuch­tel­te und nichts un­ver­sucht ließ, sei­ne Zwer­gen­freun­de auf ih­ren fa­ta­len Irr­tum auf­merk­sam zu ma­chen. Aber es war ver­ge­bens, und sie ka­men im­mer nä­her, die Rot­man­tel­zwer­ge, sie blick­ten gar fin­ster drein, ih­re frisch­ge­wetz­ten Zwer­gen­si­cheln wirk­ten trotz ih­rer ro­sa Far­be be­droh­lich, und sie ka­men im­mer nä­her, und A. schrie und fuch­tel­te, doch sie ka­men im­mer nä­her und nä­her und nä­her ...

Plumps!

Schweißge­ba­det fand sich A. ne­ben sei­nem Zwer­gen­bett wie­der, in sei­nem Zim­mer, in seiner neuen, schö­nen Woh­nung. Nur müh­sam ge­lang es ihm, sich auf­zu­rap­peln und sich wie­der auf sei­ne Ru­he­statt zu be­ge­ben, zu sehr saß ihm der Schrecken, nein, das blan­ke Ent­set­zen in den Glie­dern.

Im­mer wie­der ver­such­te er, sich zu be­ru­hi­gen: „So et­was gibt es nicht, so ge­mein kann gar kein Zwerg sein, nein, nein, nie­mals!”

Oder???

Noch lan­ge lag er wach auf sei­nem Bett, noch lan­ge dach­te er über sei­nen Zwer­gen­alp­traum nach, und noch lan­ge brauch­te er, bis sich sein Ent­set­zen halb­wegs ge­legt hat­te.

Erst nach­dem er be­schlos­sen hat­te, den an­de­ren Rot­kap­pel­zwer­gen von sei­nem Traum zu be­rich­ten, konn­te er wie­der ein­schla­fen.

Und drau­ßen fiel der er­ste Strahl der Zwer­gen­son­ne auf den Berg und den da­vor­lie­gen­den nack­ten Erd­strei­fen, auf dem die er­sten Gras­hal­me und Blü­me­lein zu sprie­ßen be­gan­nen ...


Alle sozialistischen Ideologien sind dem Individuum und damit auch seinen angeborenen und erworbenen Rechten feindlich gesinnt!


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