Gebet eines Alten Herrn

O Herr, Du weißt bes­ser als ich,
daß ich äl­ter und eines Ta­ges alt sein werde.

Be­wah­re mich vor der schreck­li­chen Ge­wohn­heit,
zu je­dem The­ma und je­dem An­laß et­was sa­gen zu müs­sen.

Er­lö­se mich von der Lust,
die An­ge­le­gen­hei­ten an­de­rer in Ord­nung zu brin­gen.

Laß mich be­schau­lich, aber nicht ver­drieß­lich wer­den,
hilfs­be­reit, aber nicht des­po­tisch!

Bei mei­nem ge­wal­ti­gen Reich­tum an Weis­heit scheint es mir ewig scha­de,
ihn nicht ganz an­zu­wen­den, aber Du weißt ja, Herr,
daß ich mir schließ­lich ein paar Freun­de er­hal­ten möch­te.

Be­wah­re mei­nen Geist vor der Auf­zäh­lung end­lo­ser Ein­zel­hei­ten!
Ver­lei­he mir Schwin­gen, um zur Poin­te zu ge­lan­gen!

Leh­re mich schwei­gen über mei­ne Schmer­zen und Lei­den.
Sie neh­men zu. Die Lust, sie zu be­schrei­ben, wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wa­ge es ja nicht, die Gna­de zu er­fle­hen, an­de­rer Leu­te Er­zäh­lun­gen
über ih­re Lei­den zu ge­nie­ßen. Aber leh­re mich, ge­dul­dig sie zu er­tra­gen.

Ich wa­ge es auch nicht, ein bes­se­res Ge­dächt­nis zu er­fle­hen,
aber doch grö­ße­re De­mut und we­ni­ger Recht­ha­be­rei,
wenn mein Ge­dächt­nis nicht mit dem von an­de­ren über­ein­stimmt.

Leh­re mich die glor­rei­che Er­kennt­nis,
daß ich mich ge­le­gent­lich ir­ren kann.

Er­hal­te mich so an­ge­nehm wie mög­lich. Ich will kein Hei­li­ger sein,
es läßt sich mit man­chen von ih­nen so schwer le­ben.

Aber ein gran­ti­ger al­ter Mensch ist das Krö­nungs­werk des Teu­fels!

Ver­lei­he mir die Ga­be, an un­er­war­te­ten Stel­len Gu­tes
und bei Men­schen un­ver­mu­te­te Ta­len­te zu ent­decken.
Und laß mir die Gna­de zu­teil wer­den, Herr, es ih­nen auch zu zei­gen.

Amen!