Sprung im Schüssel?

Österreichs Glück oder Ende

Carolinas Nachrichten Nr. 1/1996, S. 1–5


Wahr­lich un­be­liebt war der letz­ten Wahl­gang, den Herr und Frau Öster­rei­cher am 17. De­zem­ber 1995 hin­ter sich ge­bracht ha­ben. Die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit, so hat man vom ORF er­fah­ren, hät­te lie­ber den Zeit­auf­wand von et­wa einer hal­ben Stun­de und den äqui­va­len­ten Ka­lo­rien­auf­wand von ein paar Schluck Bier an­der­wei­tig in­ve­stiert als in die Zu­kunft un­se­res Lan­des, in die längst fäl­li­ge und von der EU durch die in Aus­sicht ge­stell­te Wäh­rungs­union in­zwi­schen er­zwun­ge­ne Ent­schei­dung über Öster­reichs wirt­schaft­lich–po­li­tisch–so­zial–kul­tu­rel­les Glück oder En­de.


© 1996/1998 by Christoph Ledel — Salzburg Wer je­doch die Rot­funk-Pro­pa­gan­da und das rest­li­che Me­dien­ge­ze­ter ig­no­rier­te, dem bot sich die un­er­war­te­te Chan­ce, ein klei­nes Flämm­chen, das Licht eines Wun­ders, in wei­ter Fer­ne zu er­blicken. Zum er­sten Mal seit neun Jah­ren hat sich ein füh­ren­des Mit­glied der Öster­rei­chi­schen Volks­par­tei dazu be­kannt, Ver­ant­wor­tung — im eigent­li­chen Sinn des Wor­tes — für die­ses Land zu überneh­men, zum er­sten Mal seit neun Jah­ren wur­den den So­zia­li­sten von Kon­ser­va­ti­ven und nicht von einem Frei­heit­li­chen zum Woh­le des Lan­des der Scher­ben auf­ge­setzt.

„So, so,” wird der ge­neig­te Le­ser jetzt den­ken, „und was ha­be ich da­von? Das Her­vor­ste­chend­ste am Schüs­sel ist das Ma­scherl, und über­haupt, der Mann hat nicht ein­mal ein kon­ser­va­ti­ves Auf­tre­ten, von kon­ser­va­ti­ver Welt­an­schau­ung ganz zu schwei­gen!”

Bra­vo, oh du mein ge­neig­ter Le­ser, recht hast du! Und je we­ni­ger die ÖVP dich ver­tre­ten hat, de­sto mehr hast du dich auf dei­ne Welt­an­schau­ung zu­rück­ge­zo­gen — und leider mitt­ler­wei­le den Bo­den der Rea­li­tät ver­las­sen.

  • Wahr ist näm­lich viel­mehr, daß eine ewig lan­ge Zeit so­zia­li­sti­scher Re­gie­rung die Struk­tu­ren in Recht und Wirt­schaft ge­prägt ha­ben.

  • Wahr ist näm­lich viel­mehr, daß die ÖVP — von den wirk­lich Kon­ser­va­ti­ven im eigent­li­chen Sin­ne des Wor­tes (das sind nach Franz Josef Strauß be­kannt­lich je­ne, die an der Spit­ze des Fort­schritts mar­schie­ren) will ich gar nicht re­den — auf­grund ih­rer Ma­nie, sich der „Mei­nung des Vol­kes” an­zu­pas­sen, oh­ne da­bei zu er­ken­nen, von wel­cher Sei­te die­se Mei­nung ge­steu­ert wird (lie­be Grü­ße vom Rot­funk!), nicht nur beim ge­mei­nen, wenn auch ge­le­gent­lich wohl­ge­son­ne­nen Vol­ke, son­dern vor al­lem bei je­nen, von de­ren (gei­sti­ger) Un­ter­stüt­zung sie leb­te — wie zum Bei­spiel die Jun­ge Eu­ro­pä­ische Stu­den­ten­ini­tia­ti­ve — ih­re Glaub­wür­dig­keit in be­zug auf Grund­satz­treue völ­lig ein­ge­büßt hat.


© 1996/1998 by Christoph Ledel — Salzburg

  • Wahr ist näm­lich viel­mehr, daß so­zia­li­sti­sche Me­dien-, „Bil­dungs-” und Hoch­schul„po­li­tik” — trotz der man­nig­fal­ti­gen War­nun­gen kon­ser­va­ti­ver Den­ker und Grup­pie­run­gen, die im­mer wie­der an die ÖVP her­an­ge­tra­gen wor­den sind — dank des re­ak­tio­nä­ren Pro­porz­den­kens der bei­den Groß­par­tei­en jahr­zehn­te­lang fröh­li­che Ur­ständ' fei­ern konn­ten und so das Wer­te- und Rechts­be­wußt­sein der öster­rei­ch­ischen Staats­bür­ger (und das sind aus­schließ­lich je­ne Per­so­nen, die sich be­wußt als sol­che emp­fin­den und da­her wil­lens sind, ne­ben den ih­nen zu­ste­hen­den Rech­ten auch die ent­spre­chen­den Pflich­ten be­reit­wil­lig zu über­neh­men!) lang­sam, aber ste­tig un­ter­mi­niert ha­ben.

  • Wahr ist näm­lich viel­mehr, daß die all­ge­mei­ne Un­zu­frie­den­heit, die den Öster­rei­cher zur Zeit be­wegt, bewußt von den So­zia­li­sten ka­na­li­siert wird, denn es wä­re ab­so­lut naiv zu glau­ben, daß die gro­ßen Wahl­er­fol­ge, die Jörg Hai­der mit sei­nen „Frei­heit­li­chen” re­gel­mä­ßig fei­ert (ver­geßt bit­te die paar Stim­men, die er bei der letz­ten Wahl ver­lo­ren hat; sie sind nicht es­sen­tiell!), den Ro­ten nicht nut­zen wür­den: Das Schuld­ge­fühl, das sei ver­brei­ten, in­dem sie glau­ben ma­chen, Öster­reich wür­de in­ter­na­tio­nal iso­liert sein, wür­de Hai­der Bun­des­kanz­ler, die Recht­fer­ti­gung ver­ba­ler Ge­walt nach dem Mot­to „der Zweck hei­ligt die Mit­tel” ge­gen eine mit fast einem Drit­tel al­ler ab­ge­ge­be­nen Stim­men auf de­mo­kra­ti­sche Wei­se ge­wähl­te Par­tei, die Mög­lich­keit, die sich durch die­se „Recht­fer­ti­gung” er­gibt, et­wa ein Vier­tel der öste­rrei­chi­schen nicht-so­zia­li­sti­schen Wäh­ler qua­si aus dem de­mo­kra­ti­schen Le­ben die­ses Lan­des aus­zu­schlie­ßen, ist zur Zeit die ein­zi­ge po­li­ti­sche Über­le­bens­chan­ce un­se­rer So­zia­li­sten; oh­ne das „Feind­bild Hai­der” könn­ten die schon lan­ge nicht mehr von den Pro­ble­men ab­len­ken, die sie ge­schaf­fen ha­ben!

  • Wahr ist näm­lich viel­mehr, daß uns via ORF dau­ernd ein­ge­re­det wor­den ist, Öster­reich ge­hö­re zu den reich­sten Län­dern der Welt. Das mag wohl wahr ge­we­sen sein. We­gen der ro­ten Miß­wirt­schaft ha­ben wir der­zeit nicht nur mit einer Bud­get–Kri­se zu kämp­fen, son­dern auch mit einem be­äng­sti­gend stei­gen­den wirt­schaft­li­chen Nie­der­gang in un­se­rem Lan­de. Es kommt nicht von un­gefähr, daß ein Wie­ner Ver­lag im ver­gan­ge­nen Jahr mit den Wor­ten „Die Be­deu­tung des In­sol­venz­rechts nimmt zu ...” ein ein­schlä­gi­ges Werk zur Kon­kurs-, Aus­gleichs- und An­fech­tungs­ord­nung be­wor­ben hat und daß dies durch die in di­ver­sen un­ab­hän­gi­gen Zei­tun­gen ver­öf­fent­lich­ten In­sol­venz­sta­ti­sti­ken auf be­sorg­nis­er­re­gen­de Wei­se be­stä­tigt wird. Trotz ver­schie­de­ner Ju­bel­mel­dun­gen, die von der Re­gie­rung ver­brei­tet wer­den, trotz eini­ger Ein­zel­er­fol­ge, die tat­säch­lich er­zielt wor­den sind, ma­chen sich Nie­der­ge­schla­gen­heit und Hoff­nungs­lo­sig­keit breit an­ge­sichts leer­ste­hen­der Ho­tels in vie­len Frem­den­ver­kehrs­or­ten, an­ge­sichts der vie­len Ge­schäf­te, in die vor Weih­nach­ten und Neu­jahr 1995 kaum je­mand ein­kau­fen ge­gan­gen ist. Weit ver­brei­tet ist der Wunsch nach einer star­ken, hand­lungs­fä­hi­gen Re­gie­rung — das er­fährt der in­ter­es­sier­te Bür­ger s­ogar vom Rot­funk (so etwa im „Mit­tags­jour­nal” vom 29.12.1995) —, weit ver­brei­tet ist bis­her der Ein­druck ge­we­sen, „es ge­sche­he nichts”, und der Ruf nach je­man­dem, der macht, „daß et­was ge­sche­he”, ist im­mer lau­ter ge­wor­den.


Quelle: Salzburger Nachrichten vom 04.12.1995, S. 24 Fast ein Jahr­zehnt lang konn­te der Jörg un­be­strit­ten von sich be­haup­ten, daß „et­was ge­schä­he”, wenn er ans Ru­der kä­me — für kon­ser­va­ti­ve Men­schen, die zu­se­hen muß­ten, wie die­ser Jörg die gan­ze lan­ge Zeit im­mer wie­der das­sel­be üb­le Spiel un­ge­hin­dert ge­nie­ßen durf­te, ein schreck­li­cher Zu­stand, nütz­te er doch nicht nur dem Jörg, son­dern auch den Ge­nos­sen von der SPÖ, die im­mer wie­der von selbst­ge­mach­ten Pro­ble­men auf ein will­kom­me­nes Feind­bild ab­len­ken konn­ten!

Ein paar Ar­beits­lo­se bei der VOEST be­rei­ten ihm mehr Kopf­zer­bre­chen als ein um ein paar Mil­liar­den Schil­ling hö­he­res Bud­get-De­fi­zit, hat ein mitt­ler­wei­le toter Ro­ter einst gesagt und mit die­sem Spruch den Rest des da­ma­li­gen po­li­ti­schen Spek­trums in un­se­rem schö­nen Lan­de das Fürch­ten ge­lehrt.

Und jetzt end­lich — ganz plötz­lich, wie aus hei­te­rem Him­mel — scheint einer sei­ne Lek­tion ge­lernt zu ha­ben, bin­det sich fest ent­schlos­sen ein Ma­scherl um und holt sich mo­ra­li­sche Un­ter­stüt­zung von einem dicken Ge­sin­nungs­freund, dem in sei­nem Lan­de sei­ner­zeit ge­lun­gen ist, die Wen­de her­bei­zu­füh­ren.

Aber mit einem sol­chen sym­bol­i­schen Schul­ter­schluß ist es na­tür­lich nicht ge­tan; ein Kon­zept muß her!

Das zu fin­den, war leicht: Man braucht nur die da­ma­li­gen Wor­te des gro­ßen to­ten Ro­ten um­zu­dre­hen, und schon hat man des Pro­blems Lö­sung! Viel schwie­ri­ger hin­ge­gen ge­stal­te­te sich bis­lang der Ver­such, so­wohl Herrn und Frau Öster­rei­cher als auch den Koa­li­tions­part­ner von der Rich­tig­keit und Un­um­gäng­lich­keit des eige­nen Pro­gram­mes zu über­zeu­gen; der Ein­fach­heit be­dien­te man sich der Bier­deckel–Brief­form:
Auch eine Art der Werbung: der Bierdeckel-Brief

Lei­der hat der Bun­des–Vranz das al­les nicht be­grif­fen; außer­dem ste­hen da­bei viel zu vie­le Pri­vi­le­gien, die sei­ne Ge­nos­sen — vor al­lem je­ne von der Ge­werk­schaft — par­tout nicht her­ge­ben wol­len, auf dem Spiel. Sei­ne Par­tei­freun­de und er woll­ten je­den­falls nicht ak­zep­tie­ren, daß es bes­ser ist, jetzt den Gür­tel en­ger zu schnal­len, aus­nahms­wei­se ein­mal auf den Schüs­sel mit dem Ma­scherl zu hö­ren und zu spa­ren, an­statt spä­ter — et­wa an­läß­lich der Ein­füh­rung der Eu­ro­päi­schen Wäh­rungs­union — gar kei­nen Gür­tel mehr zu ha­ben.

Nein, so geht das nicht, mein­te drauf der Schüs­sel mit dem Ma­scherl, der Staat sei schließ­lich kein Ban­ko­mat, und selbst da müs­se man zu­erst auf das Kon­to einzah­len, be­vor man so eine Kar­te be­kommt und dann mit ih­rer Hil­fe von die­sem Kon­to Geld be­he­ben kann!


Quelle: Initiative „Wolfgang Schüssel muß Kanzler werden” Und ob­wohl er nur Spott und Hohn ern­te­te, blieb der Schüs­sel mit dem Ma­scherl — all­seits völ­lig un­er­war­te­ter­wei­se — Gott sei Dank hart!

Zum er­sten Mal seit lan­ger, lan­ger Zeit stell­te sich ein ÖVP–Po­li­ti­ker dem Hoch­mut, der Selbstgefälligkeit der Roten in den Weg — und das noch dazu mit einem durchdachten Konzept! Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren ist es endlich einem Po­li­ti­ker — und noch da­zu einem von der Öster­rei­chi­schen Volks­par­tei! — nicht nur ge­lun­gen, ge­gen den Jörg an­zu­tre­ten und zu be­ste­hen, son­dern so­gar einen gro­ßen Sieg nach Punk­ten zu er­rin­gen! Zum er­sten Mal nach lan­ger Fru­stra­tions­pe­rio­de mach­te sich der Ein­druck breit: „Das ist der An­fang vom rich­ti­gen Weg! Es geht wie­der auf­wärts! Wir ha­ben wie­der eine Chan­ce!” Und noch viel wich­ti­ger: „Un­ser Land hat wie­der eine Chan­ce!”

Mag es dem Schüs­sel mit dem Ma­scherl auch an je­nem ge­lun­ge­nen ni­veau­vol­len Auf­tre­ten man­geln, das Po­li­ti­ker in vie­len an­de­ren Län­dern an den Tag zu le­gen pfle­gen (wie et­wa der ein­gangs er­wähn­te dicke Ge­sin­nungs­freund), so scheint es doch, daß in der ÖVP ein fri­scher Wind weht, der — im Ge­gen­satz zu den Fur­zen, die dort sonst zu rie­chen wa­ren — in­zwi­schen weiß, wo­her er wo­hin zu bla­sen hat: von ko­nser­va­ti­ven Grund­wer­ten aus­ge­hend nach Eu­ro­pa!

Und so kam es, daß auch die G'schich­terln vom „guat'n, oid'n Vranz” den ful­mi­nan­ten Wahl­sieg der ÖVP (ja­wohl: ful­mi­nant! Seit lan­ger Zeit wu­rden wie­der Stim­men hin­zu­ge­won­nen, al­le an­de­ren Par­tei­en mit Aus­nah­me der So­zia­li­sten ha­ben an Ge­wicht ver­lo­ren, durch die Aus­gren­zung der Frei­heit­li­chen und die Ver­schie­bun­gen von „Grün” nach „Rot” wur­de für die SPÖ je­de Tak­tier­mög­lich­keit in be­zug auf einen mög­li­chen Koa­li­tions­wech­sel ge­nom­men) und da­mit eine weit­ge­hen­de Ent­mach­tung der Lin­ken trotz ih­rer Stim­men­ge­win­ne nicht ver­hin­dern konn­ten.

„Austria goes Europe.” Wenn aber der Schüs­sel mit dem Ma­scherl und sei­ne Leu­te dem po­li­ti­schen Geg­ner ge­gen­über (der sich als Koa­li­tions­part­ner erst als glaub­wür­dig er­wei­sen muß!) nicht hart blei­ben, Glaub­wür­dig­keit be­wei­sen und so die Ge­le­gen­heit nut­zen, um et­was für das Land zu tun, geht Öster­reich bald nir­gend­wo mehr hin!

Zwi­schen Wis­sen und Kön­nen liegt manch­mal ein lan­ger Weg. Wer sich aber nicht auf den Weg macht, wird nie ans Ziel ge­lan­gen. So viel man beim der­zei­ti­gen ÖVP-Chef auch kri­ti­sie­ren kann und soll: Be­kommt er keinen Sprung, son­dern bleibt selbst­be­wußt auf die­sem Kurs, dann scheint we­nig­stens ein er­ster Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung ge­tan, dann hat er un­se­re Un­ter­stüt­zung verdient.


Zur Artikelübersicht
Zurück zu den Verweisen
Zurück zur ersten Seite

Version Nr. 1/2024 vom 19. Jänner 2024
Für den Inhalt verantwortlich: Christoph Ledel
© by Christoph Ledel — Wien (Österreich)
Alle Rechte vorbehalten! — All Rights Reserved! — Touts droits réservés!

Die Besucherstatistik
für diese Seiten seit
29. April 2005:

Besucherzähler

Meine persönlichen Browser-Einstellungen ...

Seitengestaltung von Christoph M. Ledel